Rezension

Polizeiermittlungen & unvorstellbares Grauen

Der Outsider - Stephen King

Der Outsider
von Stephen King

Bewertet mit 4 Sternen

In Flint City wird ein elfjähriger Junge grausam zugerichtet im Stadtpark entdeckt. Der Mörder ist rasch gefunden, weil es sich Augenzeugen und Spurensicherung zufolge um Terry Maitland handelt. Terry Maitland hat aber ein Alibi, das niemand in Abrede stellen kann. Wer hat es tatsächlich getan?

Mit „Der Outsider“ hat Stephen King einen Roman geschrieben, der meiner Meinung nach die Stärken des ‚neuen‘ King mit seinem gewohnt unschlagbaren Horror vereint. Zwar mag der Meister nicht in Bestform sein, dennoch habe ich diesen Roman gerne gelesen, weil es ein verdammt gutes Schmankerl ist.

Als Leser ist man in Flint City zu Gast und wird sofort mit dem Mord an dem elfjährigen Jungen überrollt. Für die Polizei steht der Täter fest: Terry Maitland hat es getan, weil ihn dutzende Augenzeugen gesehen haben, und sämtliche Spuren am Tatort eindeutig auf den allseits beliebten Englischlehrer verweisen. Daher wird der verheiratete Mann in aller Öffentlichkeit bei einem Baseballspiel verhaftet. Die ganze Stadt ist sozusagen live dabei. Allerdings kommen bei den Ermittlungen rasch Zweifel auf, weil es ein wasserdichtes Alibi gibt, gegen das selbst die Funde am Tatort nicht ausreichend sind.

Es besteht also ein Zwiespalt, den es nicht geben dürfte. Terry Maitland hat es getan, obwohl er es nicht getan haben kann. Hier beginnt sich eine geistige Spirale zu drehen, die nicht nur den Ermittlern zu schaffen macht. Es werden DNA-Beweise gesichtet, Fingerabdrücke genommen, Zeugen vernommen - dabei kommt man immer auf das gleiche Ergebnis: Terry Maitland ist ein Mörder, obwohl er unschuldig ist. 

Klingt das verquer? Ist es auch! Denn King hat diesmal sein neuentdecktes kriminalistisches Talent gekonnt mit dem gewohnten Horror vereint. Polizeirealität trifft auf mysteriöses Grauen, wobei man sich beim Lesen schon in der Gedankenspirale verfängt. 

Meinem Eindruck nach ist dieser Roman dementsprechend in zwei Teile gegliedert. Zuerst ist man mitten in den trockenen polizeilichen Ermittlungen, lässt mit Rechtsberatern und Polizei die Fakten Revue passieren, und versucht, Ungereimtheiten möglichst logisch aus dem Weg zu räumen. Danach landet man in der kingschen Welt des unvorstellbaren Grauens, die einem schon manchen Schauer über den Rücken jagt. 

Dabei stellt King den gesamten Polizeiapparat und die Rechtssprechung in Frage. Er thematisiert, wie Fehleinschätzungen Leben vernichten kann. Rasch wird aus dem potentiellen Täter das nächste Opfer, indem es durch unzutreffende Interpretationen zu falschen Entscheidungen kommt. 

Die Geschichte an sich ist exzellent und höchst fesselnd eingefädelt. Gerade die kriminalistische Sicht auf die Entwicklungen hat mir außerordentlich gut gefallen, weil ich auf diese Weise mal wieder eingelullt wurde. Stephen King schafft es, wie kein anderer, mich ganz langsam in seine Welt zu ziehen, bis ich von einem Moment auf den anderen mitten im Geschehen bin. Ich finde es unheimlich packend, wenn er detailliert die Ausgangssituation vor mir ausbreitet. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass das auf manche Leser ermüdend wirkt.

Im zweiten Teil der Erzählung ist nicht nur das unaussprechliche Grauen, sondern auch Holly Gibney aus der Mr-Mercedes-Trilogie zu Gast. Wie immer greifen Kings Werke ineinander, es gibt viele Verweise, dennoch ist der Bezug zu dieser Trilogie sehr ausgeprägt. Das geht so weit, dass man sich spoilert, sollte man sie noch nicht gelesen haben. Wer also unvoreingenommen die Schandtaten von Mr Mercedes kennenlernen will, sollte sich „Der Outsider“ für die Zeit danach aufsparen.

Alles in allem hat mich King erneut überzeugt und mir einen weiteren Aspekt seines schriftstellerischen und fantasiebegabten Könnens gezeigt. Es mag zwar nicht sein bester Roman sein, ist aber auf die ruhige und gleichzeitig schaurige Stephen-King-Art ein gutes Buch, das in seinen Bann zu ziehen weiß.