Rezension

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Prädikat: Besonders

Große Gefallen -

Große Gefallen
von Lillian Fishman

Eve ist jung, hat studiert, ist erklärte Feministin, lesbisch und in einer Beziehung mit Romi. Was das Leben darüber hinaus für sie bereithält, weiß sie noch nicht. Sie weiß nur, dass es allein in ihrer Hand liegt, dass ihre Zukunft ihre Entscheidung ist und nicht die anderer. Deswegen arbeitet sie auch lieber als Barista, statt sich den Forderungen ihres Vaters zu beugen, der sie großzügig finanziell unterstützen würde, wenn sie sich einen „richtigen“ Job sucht. Doch dann trifft sie Olivia und Nathan und plötzlich muss sich Eve fragen, wer eigentlich tatsächlich die Entscheidungen in ihrem Leben trifft.

Der Roman beginnt in medias res: Der Leser taucht in Eves Gedanken ein, die sich damit beschäftigen, dass die junge Frau gern Nacktfotos von sich macht, die sie gern zeigen würde, sich aber nicht traut; die um ihre Sexualität kreisen, ihre Wünsche und Ängste immer in Bezug zu ihrem Körper, darum, dass sie glaubt oder befürchtet, sie sei „nicht zum Ficken, sondern zu Geficktwerden bestimmt“ – und zugleich macht sie sich bewusst, wie unmöglich ihre Gedanken und Wünsche sind.
Der Anfang verrät, worauf der Leser sich auf den nächsten 250 Seiten gefasst machen muss. Es geht um Eve und um Frauen (und Männer), um Eves sexuelle Wünsche, ihr Begehren und ihre Lust im Speziellen und das von Frau im Allgemeinen, um Ängste, Widersprüche, Zwänge und um Macht; Macht über den eigenen Körper, den eines anderen und im Endeffekt um Macht im Leben und im sozialen Miteinander. Der Anfang schönt nichts, er ist explizit und macht keinen Hehl daraus, mit welcher Sprache dem Leser all diese Dinge nähergebracht werden. Wer den Anfang nicht mag, der sollte das Buch gleich wieder weglegen. Wer Fifty Shades of Grey explizit fand, sich aber mit der (völlig unsinnigen) romantischen Handlung über Wasser halten konnte, der sollte das Buch gleich wieder weglegen. Denn Große Gefallen ist kein Fifty Shades of Grey, es ist kein Liebesroman – es gibt nur gerade so eine Handlung, die gerade so linear erzählt wird: ständig gibt es Sprünge, zeitliche: vor uns zurück, gedankliche: kreuz und quer, eine Szene oder ein Gedanke wird unterbrochen und im nächsten Kapitel schließt weder das eine noch das andere zwingend an das Vorausgegangene an. Die Satzzeichen sind auf ein Minimum reduziert, es gibt keine Hinweise, wann direkte Rede beginnt und wann sie endet und das Erzählte nur noch eine weitere Überlegung oder Analyse Eves ist.
Beim Lesen verliert man sich zuweilen in Eves Gedanken, kommt nicht mit, ist befremdet, fassungslos, manchmal sogar abgestoßen und nicht selten auch empört! Empört über Eves (und Olivias) Unterwerfung, darüber, wie sie sich (für den Sex) benutzen lässt, und über ihre moralisch fraglichen Entscheidungen.
Und doch besticht der Roman gerade dadurch: Er führt den Leser durch die Gedanken einer jungen Frau, die gesellschaftliche Normen hinterfragt und sich ihre (sexuellen) Sehnsüchte eingesteht und dabei schonungslos ehrlich ist – zumindest dem Leser gegenüber. Am Ende fühlt es sich nicht so an, als lese man eine Geschichte, sondern ist eine psychologische Studie einer Frau, deren sexuelles Begehren und ihre Wünschen mit dem kollidieren, was sie gelernt hat, von dem sie glaubt, dass es richtig ist (auch weil es die Gesellschaft als richtig diktiert und betrachtet) und die zu dem Schluss gelangt, dass ihre individuellen Ansprüche und Bedürfnisse auch einen Wert haben.

„Große Gefallen“ ist kein Roman den man mal eben im Urlaub an Strand liest. Er behandelt hochaktuelle Themen, zeigt viele Entscheidungen und Handlungen und Wünsche die dem (scheinbar) widersprechen, was man als Frau heute als modern oder fortschrittlich betrachten würde. Er fordert einen, (eigene) Ansichten von Moral, Anstand, Sexualität und Individualität zu hinterfragen. Er changiert zwischen erotisch und unanständig, ist schonungslos ehrlich, dadurch auch widersprüchlich, sprunghaft, verwirrend, unangenehm, empörend – er ist alles, nur nicht langweilig.