Rezension

Preisgekrönte anspruchsvolle Erzählung

Der hinkende Rhythmus
von Gaye Boralioglu

Bewertet mit 5 Sternen

Zum Inhalt: Laut Klappentext ist "Der hinkende Rhythmus" eine Erzählung "von Begehren, Rache, der Macht der Musik und den Abgründen einer unmöglichen Liebe"; ein "ungewöhnliche(r) Liebesroman".
Den Inhalt in beschreibende Worte zu fassen, sehe ich persönlich mich kaum im Stande. Ist das Buch doch außergewöhnlich und philosophisch. Ein Versuch von Objektivität: Es ist eine gesellschaftskritische Geschichte über den Rhythmus des Lebens, eine Geschichte der Unvollkommenheit.

Leseeindruck: Der Roman wurde von seiner Autorin im Original "Aksak Ritim" getauft. Dieser in der türkischen Musik durchaus gebräuchliche "hinkende Rhythmus", wirkt auf westliche Ohren zunächst befremdlich. Als wäre an dem damit unterlegten Musikstück etwas fehlerhaft und irgendwie "unvollkommen". Letzteres Adjektiv hätte m.E. ebenfalls wunderbar in den Titel gepasst. Denn beim nachsinnen über das Buch, kam mir folgendes Zitat in den Sinn:
"Es sind nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen, welche der Liebe bedürfen. Wurde einem eine Wunde zugefügt, sei es durch die eigene oder durch fremde Hand, dann sollte die Liebe herannahen und ihm Heilung schenken – aus welchem Grunde sonst existierte die Liebe?"
(Oscar Wilde)

Die kribbelnde Spannung, herauszufinden was dieses Zitat für den Roman bedeutet, überlasse ich Dir, lieber zukünftiger Leser.

Mich hat Gaye Boralıoğlu mit ihrem Erzählstil in den Bann ihrer Protagonisten gezogen. Sie paart Substantive mit unerwarteten Adjektiven, lässt ihre Leser innehalten, nachdenken und nicht immer gänzlich verstehen. Frau Boralıoğlu, als studierte Philosophin, versteht es ihre Leser gemeinsam mit ihren erdachten Charakteren durch eine ganz eigene Atmosphäre Istanbuls wandeln zu lassen.

Durch den Zufallskauf ihres Bandes "Die Frauen von Istanbul" (im Original "Mübarek Kad nlar", 2015 mit dem Yunus Nadi Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet) habe ich Gaye Boralıoğlu lesen und schätzen gelernt. Als logische Konsequenz, erwarb ich begeistert ein weiteres Buch von ihr, nämlich das hier besprochene. Von diesem wurde ich auf eine zauberhafte Art gefesselt und zugleich mit geistigen Flügeln bestückt. Mein Gefühl in literarischen Werken zu schweben, kannte ich bisher nur durch Lektüre von Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann. Ich wage zu glauben, dass die (späte) Gruppe 47 Gaye Boralıoğlu gern gefördert und zu den ihren gezählt hätte.

Fazit: Wer sich an Gaye Boralıoğlus hintergründige Erzählung un-vollkommenener Liebe heran wagt, der darf mannigfaltige Schicksale eines poetischen Istanbuls kennen lernen. Für diesen 2009 erschienenen Roman wurde die Autorin mit dem Literaturpreis Notre Dame de Sion ausgezeichnet.
Absolut lesens- und erlebenswert.