Rezension

Psychologisches Ränkespiel

Blaues Wunder -

Blaues Wunder
von Anne Freytag

Bewertet mit 5 Sternen

Walter Bornsteins Boot ist 72,8 Meter lang. Es hat eine Mastersuite und vier Gästesuiten, jede davon ausgestattet mit einem Jacuzzi auf einer Sonnenterrasse. Außerdem gibt es einen Pool, einen Fitnessraum, ein Kino und zwei Hubschrauberlandeplätze. Walter, seine Gäste, seine Frau und sein Sohn sind mit dem Helikopter angereist. Sie werden es sich eine Woche lang in den Philippinen gut gehen lassen. Ursprünglich gehörte die Bank Bornstein & Söhne der Familie von Walters Frau Rachel. Als sie jedoch Walter heiratete, unterschrieb sie einen Ehevertrag und gab ihr Erbe an ihren Mann weiter. Die Familie hatte für sie nie vorgesehen, Eigentümerin der Bank zu werden, obwohl sie im Gegensatz zu Walter mit Bestnoten studiert hatte. 

Jetzt ist sie, was sie ist eine einflussreiche Randerscheinung, die den Schatten zu schätzen gelernt hat. S. 70

Ferdinand und Kilian sind Konkurrenten. Sie bespielen die gleiche Liga, haben sich in ihrem Wohlstand eingerichtet, Häuser bezogen und eine Familie gegründet. Beide haben ihren Frauen diesen kleinen Urlaub schmackhaft geredet. Im Grunde ist es eine Geschäftsreise, die ihren Reichtum mehren kann, doch sie wissen beide nicht, wen von ihnen Walter demnächst an seiner engsten Seite wähnt. 

Für Ferdinand geht es um alles, er weiß, dass seine Chancen gut stehen, weil seine Frau Nora ein Augenschmaus ist. Für ihre vierzig Jahre hat sie sich gut gehalten, wie immer wird sie ihm den Rücken stärken, das ist eine stillschweigende Übereinkunft. Er besorgt das Geld, sie bespaßt die Kinder, diverse Wohltätigkeitsveranstaltungen und genießt das Vergnügen. 

Kilians Frau Franziska gefällt die Stimmung an Bord nicht. Walter ist ihr unsympathisch, wie er immer am Ende des Tisches sitzt und sie alle beobachtet wie ein Übervater. Für sie, die aus denkbar einfachen Verhältnissen kommt, ist das ganze eine Farce. Außerdem verabscheut sie ihren Mann und kann ihm in der Enge des Bootes nicht aus dem Weg gehen.

Fazit: Was ist das denn für eine geniale Geschichte? Anne Freytag hat nach ihrem literarischem Debüt „Lügen, die wir uns erzählen“ ein psychologisches Überraschungspaket geschaffen. Sie schickt sieben Menschen auf eine Yacht in die Südsee, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Story wird aus der Sicht aller drei Frauen erzählt, die abwechselnd zu Wort kommen. Dazwischen sehen wir Interaktionen, die die Frauen in ihrem Kopf auszuwerten und einzuordnen suchen. Die Männer sind ehrgeizig, bevormundend und machtbesessen. Es entsteht das Bild eines manipulativen Hais, der Delfine gegen Wale ausspielt und sich daran erheitert, wie andere sich erniedrigen. Nach und nach erfahre ich über die Gedanken der Frauen, warum sie sich von ihren Männern abhängig gemacht haben. Und dann entstehen so spannende Wendungen, dass ich aufhöre zu atmen. Die Autorin schickt mich in ein Wechselbad der Gefühle. Ich schüttel den Kopf, erstaune, erschauere, lächle, blicke in den Himmel und denke nach. Ein so gut gezeichnetes Ränkespiel um Bedürfnisse, das genau meinen Nerv getroffen hat.