Rezension

Quälende Auseinandersetzung mit der Mutterrolle

Was wir voneinander wissen - Jessie Greengrass

Was wir voneinander wissen
von Jessie Greengrass

Bewertet mit 4 Sternen

Eine namenlose Icherzählerin und ihr Mann haben sich zu einem zweiten Kind entschlossen, zu einem Zeitpunkt als ihre kleine Tochter selbstständiger wirkt und darum speziell ihrer Mutter fremder geworden ist. In Einschüben befasst sich die Schwangere – stilistisch brillant – mit Konrad Röntgens Forschungstätigkeit und der Rolle seiner Frau dabei, mit Sigmund Freuds Psychoanalyse von Kindern und mit den Anatomen William und John Hunter, deren Arbeit wichtige Erkenntnisse über Schwangerschaft und Geburt beitrug. Das Motiv, warum die Gedanken der werdenden Mutter um genau diese naturwissenschaftlichen Themen kreisen, blieb mir jedoch fremd. Sie scheint sich in Sachthemen zu flüchten, um sich nicht mit naheliegenden Fragen ihrer zweiten Schwangerschaft auseinandersetzen zu müssen. So reflektiert sie zu Beginn des Romans weder Vereinbarkeit von Beruf und Familie (hat sie überhaupt einen Beruf?), noch wie sie ihr Leben mit demnächst zwei Kindern organisieren wird.

In weiteren Rückblenden wird deutlich, dass die junge Frau die emotional verwaiste Tochter einer distanzierten Mutter gewesen ist. Das Verhältnis der beiden kehrte sich um, als die Tochter ins Elternhaus zurückzog, um ihre plötzlich pflegebedürftig gewordene Mutter zu versorgen. Solange sie sich nicht mit ihrer Mutter versöhnt hat, wird es ihr schwerfallen, sich mit ihrer eigenen Mutterrolle auseinanderzusetzen.  Bereits die Großmutter mütterlicherseits (Spitzname Dr. K.) hatte das Verhältnis von Müttern und Töchtern in dieser Familie entscheidend geprägt, als sie die Mutter der Erzählerin als Modell-Probandin für ihre Karriere als Psychoanalytikerin benutzte. Erst ihre Schwiegermutter in ihrer Rolle als Großmutter wird der Erzählerin deutlich gemacht haben, dass die kühle Atmosphäre ihrer eigenen vaterlosen Familie nicht dem entspricht, was andere Menschen mit Familie bezeichnen. Das Gleichsetzen von Handeln und Lieben durch ihre Mutter kann man ebenso ungewöhnlich finden wie die Erinnerung der Schwangeren daran, dass sie als Kind lange Wissen und Wahrheit gleichsetzte. Psychoanalyse sieht sie heute als „Entpacken“ des menschlichen Verstandes bei Kindern jedoch ebenso als Verletzung von deren Privatsphäre. Die Auseinandersetzung mit Freud hat ihr sicherlich dabei geholfen, „Dr. K.“ zu verstehen und wie deren stets geschäftsmäßiges Verhalten wiederum die Mutter prägte. Schließlich kommen ganz persönliche erniedrigende und traumatisierende Erfahrungen der Erzählerin während Schwangerschaft und Geburt zur Sprache. Die Kombination aus Pflichtbewusstsein,  Erschöpfung und ihr Grübeln, als Gebärende evtl. etwas falsch gemacht zu haben, lassen zudem eine postpartale Depression befürchten.

Der Erzählton klingt - gerade in den historischen Einschüben - ungewöhnlich sachlich, so dass ich mir die Erzählerin gut als Historikerin oder Medizinhistorikerin vorstellen könnte. Sie formuliert brillant und in Bandwurmsätzen, scheint Sinneseindrücke aus ihrer Umgebung sensibel wahrzunehmen und zu beschreiben. Angekündigt wird Jessie Greengrass‘  Erstling als Auseinandersetzung mit Wissenschaft und welche Rolle darin zufällig getroffene Entscheidungen spielen können. Ich habe den stilistisch eindrucksvollen Roman eher als Lehrstück gesehen, dass jemand kaum Mutter oder Vater werden kann, ohne zuvor selbst bemuttert und bevatert worden zu sein.