Rezension

Queenie Hennessys außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry - Rachel Joyce

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
von Rachel Joyce

Bewertet mit 5 Sternen

Mit „Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry“ schrieb die englische Autorin Rachel Joyce den Nachfolgeband zu ihrem äußerst erfolgreichen Debütroman: „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“. Ihr erstes Buch wurde direkt für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in mehr als 30 Ländern die Bestsellerlisten und wird gerade verfilmt.

Obwohl dieser zweite Band sicher auch als Einzelband gelesen werden kann, möchte ich jedem Leser wärmstens empfehlen, den ersten Band bitte davor zu lesen. Dies macht nach meinem Empfinden den ganz besonderen Reiz der Geschichte aus und ergänzt und verbindet beide Bände zusammen zu einer runden Geschichte, zu einem vollkommenen Ganzen.

Das erste Buch handelt von der ungewöhnlichen Reise des Harold Fry. Harold wollte eigentlich nur einen Brief an seine frühere Arbeitskollegin Queenie Hennessy in den Briefkasten werfen, aber dann kommt alles anders und er läuft und läuft, so wie er gerade aus dem Haus gegangen ist, einfach immer weiter, am Briefkasten vorbei, 1000 km zu Fuß von Süd- nach Nordengland, um Queenie, die in einem Hospiz im Sterben liegt, zu besuchen.

Im vorliegenden zweiten Band wird die Geschichte nun aus Queenies Sicht erzählt. Dieser Roman handelt genauer gesagt von Queenies Brief an Harold. Denn während Harold quer durch England pilgert, möchte ihm Queenie ihre ganz eigene Geschichte erzählen und vor allem endlich ihre furchtbar belastende Wahrheit preisgeben, die Harold bisher noch nicht kannte. Sie nützt die kostbare Zeit die ihr bleibt und schreibt sich alles von der Seele, was sie Harold schon immer sagen wollte.

Wo Queenie im ersten Buch eher blass blieb, kommt man ihr jetzt tatsächlich unglaublich nahe. Selten entstehen für mich beim Lesen so klare Bilder des Erzählten wie bei diesem Werk von Rachel Joyce. Queenies gesamtes Leben und Wirken, ihre Kindheit, die heimliche Liebe zu Arthur, ihr wunderschöner Garten & das Häuschen am Meer, das alles und noch viel mehr liegt offen vor dem Leser. Man schmeckt, riecht, fühlt und erlebt alles hautnah mit, denn der Schreibstil der Autorin ist in dieser Hinsicht einfach einzigartig. Sie versteht es wie keine andere, die Menschen mit ihren Worten ganz tief innen zu berühren und in kaum einem anderen Buch habe ich auf 400 Seiten mehr kleine und auch große Lebensweisheiten finden dürfen, wie in dem vorliegenden.   

Allein durch den Wunsch, Harold alles in einem Brief mitzuteilen, ihn daran teilhaben zu lassen, wie sich alles in ihrem Leben zusammenfügt – nur dafür lebt Queenie noch und das gibt ihrem Leben im Hospiz einen tieferen Sinn. Dieses Buch bietet so viele Facetten des Menschseins und des wahren Lebens, dass ich es sehr langsam und bewusst lesen musste, ansonsten wäre mir womöglich das eine oder andere, auch zwischen den Zeilen, entgangen. Und dafür ist mir Rachel Joyce‘ Art zu schreiben viel zu teuer und zu kostbar.

Wir dürfen auf dieser Lebensreise mit Queenie sehr viele außergewöhnliche tolle Charaktere kennenlernen. Gerade speziell im Hospiz sind mir einige der Bewohner so richtig ans Herz gewachsen. Rein stimmungsmäßig habe ich beim Lesen wohl auch eher selten so ein extremes Gefühls-Auf & Ab erlebt, habe auf der einen Seite noch gelacht und hatte auf der nächsten bereits Tränen in den Augen, habe mit den Protagonisten gelitten und mich mit ihnen gefreut – ich war und bin immer noch mittendrin in der Geschichte merke ich gerade.

Kommt mit Queenie mit auf eine unglaublich vielfältige, ruhige und berührende Lebens- und Entdeckungsreise, gespickt mit viel feinem englischem Humor und lasst euch von der Geschichte so verzaubern wie ich. Lest diesen Roman voller Liebe und Hoffnung, der Freiheit und dem Tod, und lest auch über Schuldgefühle und Trauer und vor allem über den Versuch in ein neues Leben aufzubrechen. Und wie stellt Queenie so schön fest:

"Die Reise war damit beendet, aber ich musste entdecken, dass eine Liebe nicht so leicht zu beenden ist. Sie hört nicht auf, nur weil man wegrennt. Sie hört nicht mal auf, wenn man beschließt, noch einmal neu anzufangen."

Mein Fazit:

Eine ganz klare Leseempfehlung gibt es von mir für diese bezaubernde Lebens- und Liebesgeschichte der Queenie Hennessy! Selten lagen bei mir Weinen und Lachen enger beieinander, selten bot eine Geschichte so viele Facetten des wahren Lebens und nicht allzu oft habe ich dies in einem Buch besser umgesetzt lesen dürfen, wie bei dem vorliegenden. Herzlichen Dank an Rachel Joyce für diese wahrlich bereichernde Lektüre, die Trost, Kraft und Freude schenkt und mich mit einem ganz außerordentlich bereichernden Gefühl zurückließ.