Rezension

Rätselhaft und düster

Der Ozean am Ende der Straße - Neil Gaiman

Der Ozean am Ende der Straße
von Neil Gaiman

"Wie alt bist du wirklich?", fragte ich.
"Elf."
Ich dachte einen Moment nach. Dann fragte ich : "Wie lange bist du schon elf?"
Sie lächelte mich an.

Hm. Ich weiß nicht recht, was ich von dieser Geschichte halten soll. "Ein poetisches Juwel, wie man es nicht oft zu lesen bekommt." Sagt Daniel Kehlmann. Ja, da hat er wohl Recht. So etwas bekommt man nicht oft zu lesen. Und poetisch ist es auf jeden Fall auch. Kindlich poetisch. Eigentlich richtig gut geschrieben. Aber die Story ...

Es ist eine sehr merkwürdige Geschichte. Merkwürdig und düster. Und mir nach kurzer Zeit erheblich zu naturmagisch, und damit in einer wie ich finde ungesunden Art esoterisch. Auf jeden Fall habe ich bei diesem Buch irgendwie nicht mit so etwas gerechnet. Und ich weiß bis zuletzt nicht: will der Autor hier einfach eine Parabel liefern für irgendwelche inneren Vorgänge? Oder glaubt er wirklich an dieses Beschwörungszeug, an Feenkreise, an den Ozean am Ende der Straße? Oder vielleicht trifft ja auch beides zu ... Aber wunderbar geschrieben ist es tatsächlich, aus der Sicht eines siebenjährigen Jungen, und das beklemmend gut. Weiß ich seinen Namen? Ich glaube nicht. Er bleibt namenlos, und doch blicken wir sehr tief in ihn hinein, in seine Sehnsüchte, Ängste und Schuldgefühle. Und dann ist da Lettie. Die fünf Jahre älter ist und doch irgendwie eine gute Freundin. Bei ihr auf dem Nachbarhof, einer coolen alternativ-mystischen Mehrgenerationen-Enklave, die nur aus Mutter, Großmutter und Enkelin besteht, fühlt sich der Junge geborgen, angenommen, in Sicherheit. Und doch holt ihn auch dort irgendwann mit erbarmungsloser Wucht das andere Leben ein ...

Das Buch ist sehr spannend und liest sich rasch durch. Obwohl mehr als ein Kapitel mit einem ratlosen Fragezeichen auf dem Gesicht der Leserin endete. Manches ist sehr grotesk. Verstörend auch die hin und wieder eingedruckten Bilder im naiven Siebziger-Jahre-Schneiderbuch-Stil, als wäre die Geschichte als Kinderbuch konzipiert worden, was sie definitiv nicht ist. Eher schon so eine Art Harry Potter für Erwachsene. Nur die Zauberstäbe fehlen. Sehr faszinierend dennoch. Und irgendwie sehr wahrhaftig. Wie dem auch sei, wen meine verworrene Beschreibung hier nicht genügend abgeschreckt hat, der muss wohl selber lesen, um herauszufinden, ob dieses Buch ihm etwas zu sagen hat.

In seiner Danksagung schreibt Neil Gaiman, dass das Buch ursprünglich eine Auftragskurzgeschichte werden sollte, dass dann aber doch ein Roman dabei herauskam. Wie als müsste hier eine Bringschuld abgearbeitet werden, enthält der Band in dieser Ausgabe des Bastei-Lübbe-Verlages dann tatsächlich noch zwei zusätzliche Kurzgeschichten des Autors, "Eine Abenteuergeschichte" und "Der schwarze Hund". Diese werde ich sicherlich bei Gelegenheit noch lesen, beschränke mich aber hier auf das Rezensieren des Romans.