Rezension

Raffinierter Horror - elegant inszeniert

Die Drehung der Schraube - Henry James

Die Drehung der Schraube
von Henry James

Bewertet mit 5 Sternen

Von außen betrachtet passiert in dieser kleinen Novelle fast nichts. Eine junge Frau wird engagiert um als Gouvernante für zwei verwaiste Kinder zu sorgen. Ihr Arbeitgeben, der Onkel der Kinder, überlässt ihr völlig freie Hand und tritt nicht mehr in Erscheinung. Die Kinder sind in jeder Beziehung brav, der Landsitz ist für die aus einfachen Verhältnissen stammende angenehm luxuriös, die Arbeit mehr als leicht. Unterstützung und Freundschaft findet die junge Frau in der älteren Haushälterin. Doch schon bald scheinen unter dieser idyllischen Oberfläche einige sehr mysteriöse Dinge zu passieren. Als die junge Frau Geister zu sehen beginnt, werden ihr einige rätselhafte Ereignisse offenbar, die sich vor ihrer Ankunft zugetragen haben. Und von da an beginnt sich die Spannungsschraube zu drehen - und dreht sich immer weiter - bis zu ihrem tragischen Finale.
Henry James‘ Gruselnovelle kann als perfektes Lehrstück der Spannungsliteratur herhalten. Die Zutaten aus denen er seine Geschichte mixt sind absolut klassisch: das alte abgelegene Landhaus, die psychisch labile Ich-Erzählerin, zwei engelsgleiche Kinder, Geistererscheinungen und jede Menge dunkle Geheimnisse.
Doch der wahre Grusel, den James erzeugt, steht nicht in Worten auf dem Papier, er lauert als psychologischer Trick zwischen den Zeilen.
Mit geschickten Cliffhangern, pointiert platzierten Doppeldeutigkeiten und immer neue Fragen aufwerfenden Auslassungen stachelt er die Phantasie des Lesers an und macht ihn so im Laufe des Erzählens zu seinem Autoren-Komplizen.
In dieser Erzählung fügt sich aus den vielen angesponnenen Fäden am Ende nichts zu einem sicheren Netz zusammen. Ganz bewusst hält James dadurch den Raum für jede Form von Spekulation offen und überlässt jedem Leser den größtmöglichen persönlichen Spielraum, um seinen individuellen Horror zu entfalten.
(Man glaubt gerne, dass diese Novelle zu den meist- und unterschiedlichst interpretierten Stücken der englischsprachigen Literatur zählt.)
Manche Leser mag diese erzählerische Offenheit unbefriedigt zurück lassen, andere werden James' meisterhafte Raffinesse mit Begeisterung goutieren, aber lesenswert ist dieses kleine klassik-Juwel in jedem Fall.

Kommentare

kommentierte am 09. Oktober 2015 um 21:23

Eine interessante Empfehlung, die ich gerne aufgreife, weil ich Henry James sehr schätze.

Grüße von der Stickfee