Rezension

Raffinierter Tanz zwischen Fantasie und Wirklichkeit

Herzfaden - Thomas Hettche

Herzfaden
von Thomas Hettche

Bewertet mit 5 Sternen

Dies ist eins von den Büchern, die man eigentlich gleich nach dem Beenden noch einmal lesen möchte. Ich weiß nicht, ob ich alles verstanden habe, aber was ich verstanden habe ist weise, zauberhaft, bittersüß und ich glaube, ich könnte noch sehr viel mehr verstehen.

Natürlich erfährt man hier die Geschichte der Augsburger Puppenkiste: Wer war Walter Oehmichen, wie kam er zum Puppenspiel und was faszinierte seine Tochter Hannelore, die Hatü genannt wurde, daran? Es liest sich ein bisschen wie der amerikanische Traum in Deutschland: Vom einfachen Schauspieler, quer durch den Krieg zu einer Institution im frisch erfundenen deutschen Fernsehen.            

Zu dieser Familiengeschichte gehört auch ein gutes Stück Zweiter Weltkrieg, den man hier aber eher fühlt als dass man Fakten geliefert bekäme. Wie kommt man durch den Krieg mit einer Künstlerseele? Wie fühlt es sich an, wenn plötzlich Nachbarn, Freunde und Kollegen zu Geächteten werden, man mitten im Wahnsinn steckt und überleben will. Und wie sieht wohl ein Kind den Krieg, das nicht versteht, was passiert und sich wundert, dass seine Welt kopfsteht. Da kann ein Puppenspiel die Tür in eine andere Welt öffnen, wenn man den Herzfaden sieht, der eine Marionette lebendig macht, dieser Herzfaden, der bewirkt, dass Generationen dahinschmelzen wenn das Urmel sagt: „Ich tomme mit!“

„Der Herzfaden, hat sie die Stimme ihres Vaters im Ohr, ist der wichtigste Faden einer Marionette. Er macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“

Das ist der eine wundervolle Teil dieses Buches.

Zusätzlich begleiten wir in der heutigen Zeit ein Mädchen, das sich verlaufen hat und in einer zauberhaften, aber beklemmenden Zwischenwelt gelandet ist.  Auf dem Dachboden eines Puppentheaters trifft es auf eine riesige Hatü und hat selbst Marionettengröße. Wie kann das sein? Dieser Aspekt des Buches gibt Rätsel auf.

„Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Gegenwart die Vergangenheit. Die Zeit löst sich in der Dunkelheit auf. In einer Geschichte setzt sie sich wieder zusammen.“

Was ist ein Märchen und was geben uns Geschichten? Sind Märchen für Kinder gemacht? Von Geschichten wie Jim Knopf kann jeder etwas mitnehmen, egal wie alt er ist. Und vielleicht sollte man  Märchen viel näher an sich heranlassen, statt es als Kinderkram abzutun…
Das ist einer von unzähligen Interpretationsansätzen, die dieses Buch bietet. Wirklich festmachen kann man nicht so viel, stattdessen liefert es unendliche Möglichkeiten und eine Geschichte, die zaubrisch, morbide und nicht einzuordnen ist. Aber muss man denn immer alles einordnen?

Man kann sich auch einfach fallen lassen, in dieses Buch voller Klugheit und Atmosphäre, nimmt dabei ein Stückchen Historie mit und hat das Staunen gelernt. Dieses Buch hat auch einen Herzfaden. Es packt den Leser auf der Gefühlsebene, in einer Zwischenwelt, die nicht jeder sieht. Das ist deutlich mehr, als man von einem guten Buch verlangen kann, so etwas machen die sehr guten Bücher.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 06. September 2020 um 20:22

und es ist sogar kurz. und wieder so schön geschrieben.

Steve Kaminski kommentierte am 07. September 2020 um 20:39

Das klingt nach Lesensollen! Die Augsburger Puppenkiste!

Und den Meyerhoff, den Du auch rezensiert hast.

Sursulapitschi kommentierte am 07. September 2020 um 23:50

Unbedingt lesensollen. :-)

Emswashed kommentierte am 08. September 2020 um 08:30

Sursu, ich beneide Dich und werde ganz bestimmt dieses Buch lesen.

LySch kommentierte am 10. September 2020 um 15:35

Sursu, dank dir steht dieses Buch seit gestern bei mir im Regal :) Wunderschöne Rezi! <3

Sursulapitschi kommentierte am 10. September 2020 um 16:09

Bin sehr gespannt, was du sagst. :-)