Rezension

Realistische, traurige Bestandsaufnahme einer in die Jahre gekommenen Ehe

Schnee in Amsterdam - Bernard MacLaverty

Schnee in Amsterdam
von Bernard MacLaverty

Bewertet mit 4 Sternen

Gerry und Stella Gilmore sind beide Rentner. Das irische Ehepaar ist nach den Unruhen dort und ihren tragischen Auswirkungen auf sie beide nach Schottland gezogen, der erwachsene Sohn samt Familie wohnt in Amerika. Ein gemeinsamer Urlaub in Amsterdam wird Anlass einer Bestandsaufnahme, denn Stella hat dieses Ziel nicht zufällig ausgewählt.

Neutral und wie ein Protokollant führt uns Bernard MacLaverty durch Stellas und Gerrys Tage in Amsterdam. Schnell fallen dem Leser Gerrys extreme Alkoholsucht und die zickigen Dialoge der beiden auf. Hier stellen sich schon erste Weichen bei der Interpretation, die sicherlich den jeweiligen individuellen Erfahrungen des Lesers zu schulden sind: ist es 'schön', dass die beiden anscheinend eine gemeinsame Humorebene haben und sich gegenseitig so ein wenig hochnehmen können, oder verbergen sich hinter den launigen Kommentaren eine unterschwellige Aggressivität und Missachtung? 

Während der Leser fassungslos Gerrys alkoholbedingten Verfall beobachtet, wird deutlich, dass Stella, unstet wie ein verängstigtes Tier, einen Ausweg aus ihrer Ehe sucht. Sie besucht den in Amsterdam befindlichen Beginenhof und möchte dort ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen einlösen, das sie vor ihrem Mann nie erwähnt hat und das sie seit Jahren belastet. Sie macht gegenüber Gerry Andeutungen, die dieser jedoch nicht wahrhaben kann oder will. 

Während die beiden in rituellen Verhaltensweisen, die irgendwann mal liebevolle Gesten gewesen sein können, nebeneinander her leben erfährt der Leser mehr über die Vergangenheit der beiden. Da sind nur noch wenige erwähnenswerte Erinnerungen, etwa das Kennenlernen oder das Drama während der Schwangerschaft. Zumindest Gerry realisiert, als der Aufenthalt des Paares in Amsterdam unfreiwillig verlängert wird und der Schnee die beiden zu einer Pause - einem 'Midwinter Break' (so der Originaltitel) - zwingt, dass er ohne seine Frau wahrscheinlich gar nicht mehr lebensfähig wäre. 

Stella empfindet das gegenüber ihrem Mann nicht, doch stellt sich ihr Alleingang nicht als so einfach dar, wie erhofft. Wird sie aus Bequemlichkeit, Verantwortungsgefühl oder Liebe heraus bei Gerry bleiben? 

MacLaverty lässt den Leser selbst Bilanz ziehen über Stellas und Gerrys Ehe. Er beschreibt, ohne zu werten, eine Situation, wie es sie vermutlich in vielen langjährigen Ehen gibt. Nicht nur lässt der 'Schnee in Amsterdam' Stella und Gerry Bilanz ziehen, auch dem Leser ermöglicht er ruhige Momente zur Einsicht und Abwägung. Unweigerlich bilanziert man für sich selbst, was einen in so einer Ehe halten könnte und welche Entscheidungen man treffen würde. 
Ein Buch, das nachdenklich macht.