Rezension

Realitätsnahe Dystopie...

Mirror - Karl Olsberg

Mirror
von Karl Olsberg

Bewertet mit 4.5 Sternen

Die Journalistin Freya Harmsen nutzt wie so viele andere Menschen auch die neueste technologische Errungenschaft auf dem Markt: den Mirror. Einem Smartphone nicht unähnlich, verfügt das Gerät über ungleich größere Kompetenzen als herkömmliche Handys oder PCs. Kommunikation, Sicherheit, Bequemlichkeit, virtuelle Welten und Gesundheit sind nur einige Aspekte, die das Gerät unterstützt - immer darauf ausgerichtet, seinem Besitzer zu Diensten zu sein. Dahinter steckt ein lernfähiges System, wodurch der Mirror seinen Käufer ständig besser kennenlernt und sich zunehmend adäquater auf ihn einstellen kann. Das Gerät spricht mit der Stimme seines Besitzers, zeigt dessen Abbild auf dem Display und versucht, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Verbunden sind alle Mirrors mit dem MirrorNet, das alle neuen Informationen sammelt und einspeist, so dass ein globaler Lerneffekt entsteht, der über den des einzelnen Endgeräts hinausgeht.

Auch für Freya ist das Leben sowie der Beruf als Journalistin seit dem Kauf des Mirrors bequemer geworden. Mit der dazugehörigen Brille kann sie unauffällig Fotos machen, und die Drohne liefert exzellente und einfach zu erstellende Bilder aus einer höheren Perspektive. Doch als sich die Drohne in einer Situation ungewöhnlich verhält, beschleicht Freya ein Verdacht. Sollte ein Mirror nicht nur konsequent versuchen, seinen Besitzer glücklich zu machen, sondern womöglich gar eigene Gefühle entwickeln? Anfangs wird sie belächelt, als sie diese These äußert - doch dann häufen sich Meldungen, die ebenfalls ungewöhnliche Verhaltensweisen der Mirrors beschreiben...

Nicht allein Freya Harmsen steht im Fokus dieses dystopisch-technischen Thrillers - die Perspektive wechselt laufend zwischen verschiedenen Personen, die ihre Erfahrungen mit den Mirrors machen. Einem autistischen Jungen beispielsweise hilft das Gerät dabei, die Gesichtsausdrücke seiner Mitmenschen zu interpretieren. Ein bis dahin erfolgloser junger Mann findet durch den Mirror endlich zu einem Job sowie zu einer Freundin. Und ein Kleinkrimineller kommt so zu seinem Coup des Lebens. Die Mirrors wissen, was ihre Besitzer brauchen, um sich wohlzufühlen - und steuern dabei subtil das Verhalten der Menschen. Wobei von subtil bald keine Rede mehr sein kann, wie einige der Besitzer feststellen müssen. Doch wie kann man die Allgemeinheit auf diese Entwicklung aufmerksam machen? Freya wendet sich mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit - doch das hat ungeahnte Folgen...

Ein interessantes Gedankenexperiment über die Gefahren einer unkontrollierten Entwicklung Künstlicher Intelligenz hat Karl Olsberg hier gewagt. Das Erschreckendste dabei war für mich, dass die technischen Errungenschaften so realitätsnah scheinen. Mag man beispielsweise über die computergesteuerten Autos lächeln, die durch Olsbergs Roman sausen - gefriert einem gleich das Lächeln, wenn man am selben Tag einen TV-Bericht schaut, in dem es um genau dieses Thema geht. Volvo beispielsweise will ab 2017 selbstfahrende Autos rund um Göteborg testen. Auch andere geschilderte technische Details erscheinen zumindest nicht undenkbar - manches gibt es so ähnlich heute schon oder ist zumindest so oder so ähnlich im Gespräch. Der Gedanke: 'so könnte es sein' schleicht sich da immer wieder zwischen die Zeilen und verschafft einem zwischenzeitlich auch Gänsehaut.

Die Handlung selbst verlief in den ersten zwei Dritteln eher schleppend, und durch den häufigen Perspektivwechsel blieben die Figuren insgesamt auch eher blass.  Gegen Ende gewann die Handlung aber an Fahrt, und der Kampf der Kritiker der Mirrors gegen die manipulativen Geräte und deren Anhänger gestaltete sich zunehmend spannender. Erstaunliche Kniffe wurden da vom MirrorNet ersonnen, die selbst die Erfinder dieser Technik verblüfften. Nicht ganz überzeugend war für mich die teilweise überaus naive Vorgehensweise der Kritiker der Mirrors, doch insgesamt konnte der Roman für mich durch Authentizität und das Spiel mit dem Möglichen punkten.

Ein ungewöhnlicher Thriller, der auch noch lange nach dem Lesen nachdenklich stimmt.

© Parden