Rezension

Reduziert bis auf die Knochen

All das zu verlieren - Leïla Slimani

All das zu verlieren
von Leila Slimani

Bewertet mit 3 Sternen

Viele Unverträglichkeiten im Buch haben es mir schließlich verleidet. Es ist eine Art moderner Camus: alles ist sinnlos.

Story: Adèle ist eine antriebslose Frau, die versucht, innere Leere durch den Sexualtrieb und ungewöhnliche Sexualpraktiken zu übertünchen, dabei rutscht sie allmählich in die Sexsucht. Richard, ihr Mann, ist jahrelang zu beschäftigt um zu bemerken, was mit ihr los ist.

Der Roman „All das zu verlieren“ ist ein reduzierter Roman. Das Verhalten der Protagonisten wird nicht erklärt. Zwar gibt es spärliche Hinweise im Verlauf des Buchs, durch die man sich etwas zusammenreimen kann, aber mehr nicht.

Der Fokus liegt im ersten Teil auf Adèle und im zweiten Teil auch auf Richard, dem Arzt. Es treten Familienmitglieder auf und Freunde. Aber sie sind Staffage.

Die Autorin schreibt kühl und modern, in einer fesselnden und ansprechenden Weise. „Die Männer haben sie aus der Kindheit befreit. Sie haben sie aus diesem schlammigen Alter herausgeholt, und sie hat ihre kindliche Passivität gegen die Sinnlichkeit einer Geisha eingetauscht.“

Humbug! Nonsens hoch zehn. Was Adèle allmählich auch zum Bewusstsein kommt. Aber es ist zu spät. Sie kann nicht mehr gerettet werden, egal, was Richard tut.

Der Roman ist so gut geschrieben, dass man kaum merkt, wie schlecht er eigentlich ist. Wie spärlich der Plot angelegt ist. Wie öde Adèle ist. Wie fade Richard. Kann man Sexsucht noch eventuell nachvollziehen, bleibt es unergründlich, warum die Hauptfigur so passiv ist. Beziehungslos. Empfindungslos. So kommt niemand auf die Welt. Adèle hat kein Innenleben. Keine Selbstreflexion. Keine Hobbies. Interesse an rein gar nichts. Richard ist widersprüchlich. Ein Familienmensch, der Beziehung scheut. Einer, der Bindung will, aber bindungsunfähig ist. Einer, der keinen Zugang zu seiner Sexualität findet. Aber auch nicht darunter leidet. Warum ist er Adèle so bedingungslos verfallen? No idea. Es ist wie es ist: das ist zu wenig!

Zu Anfang ist man noch gefesselt, geblendet durch den hochaktuellen, einfachen, präzisen Stil. Der seine Schönheit hat. In seiner Knappheit. „Als sie aus Paris fortgegangen ist, hat sie alles hinter sich gelassen. Sie hat keine Arbeit mehr, keine Freunde, kein Geld. Nichts, nur dieses Haus, wo der Winter sie gefangen hält und der Sommer ihr etwas vorgaukelt.“ Da liest man weiter. Da hört man nicht auf zu lesen. Das Präsens vermittelt Dringlichkeit. Aber die Lektüre führt zu nichts. Ins Leere.

„All das zu verlieren“ ist Blendwerk. Eine feine Fingerübung für eine tolle Schriftstellerin. Die Autorin schreibt so phantastisch, dass man beinahe überliest, dass nichts weiter da steht als eine Beschreibung einer Sucht. Reduziert to the bone. Das ist Kunst, ohne Frage. So wie Bilder, auf denen nichts anderes zu sehen ist als eine einzige Farbe. Oder eine armselige Farbkomposition auf Riesenleinwand. Auch das ist Blendwerk! Wers mag. Rothko ist teuer! Deshalb gehört der Roman auch in die Königsklasse der anspruchsvollen Literatur. Dass im Roman viele Verhaltensweisen behauptet werden, die überzogen und unglaubhaft sind, ist eine andere Sache. Die nicht zusammenpassen. Madame Bovary modern? Kann sein. Madame Bovary ist ebenfalls überzogen.

Den Vergleich zu „Frau im Dunkeln“ von Elena Ferrante, drängt sich auf. Die „Frau im Dunkeln“ hat mehr Innenleben. Viel Reflexion. Auch sie benimmt sich irrational. Man reagiert mit Ärger auf diese Frau. Gefühllose Frauen sind wohl gerade in. Aber als Autorin tut man dem Frauenbild damit nichts Gutes. Geschweige denn, dass diese Darstellungen zur Befreiung der Frau aus gesellschaftlichen Zwängen beitragen würden.

Auf Adèle reagiert man nicht einmal mit Ärger. Oder Abscheu. Man reagiert gar nicht. Man zuckt die Schultern. Das Ferrante-Buch hat etwas mehr Plot zu bieten. Beides sind reduzierte Romane. „All das zu verlieren“, ist dagegen um Längen besser geschrieben. What to do?

Fazit: Tolle Schreibe. Ein großes Talent. Reduzierter Plot. Wers mag. Ist halt Kunst. Und Kunst ist Geschmacksache. Magst du Rothko, magst du Slimani. Das könnt sein.

Kategorie: anspruchsvoller Roman
Verlag: Luchterhand, 2019

Kommentare

katzenminze kommentierte am 10. Juni 2019 um 15:02

Sehr schön geschrieben. Ich hätte dir ja furchtbar gerne widersprochen, aber leider gab es ja den dritten Teil... <.< Tatsächlich: Am Ende Schulterzucken.

Marshall Trueblood kommentierte am 16. Juni 2019 um 18:49

Der Roman ist so gut geschrieben, dass man kaum merkt, wie schlecht er eigentlich ist. 

Herrlich gesagt...ich kenne den Roman nicht, hatte mich auch für die Leserunde beworben...da kann ich am Ende froh sein, dass ich nicht gewonnen habe.

Jedenfalls muss ich mir den Satz merken...er hat mir meine Laune nach einem richtig miserablen Arbeitstag gerettet!

wandagreen kommentierte am 17. Juni 2019 um 09:00

Gerne! Man tut, was man kann. /Und die Leserunde war langweilig.