Rezension

Regen über Berlin

Sommer bei Gesomina - Florian Beckerhoff

Sommer bei Gesomina
von Florian Beckerhoff

Bewertet mit 4 Sternen

Mit viel Freude und einem warmen Gefühl in der Herzensgegend denke ich gern an das Debüt von Florian Beckerhoff zurück. Die etwas schräge Geschichte um den Lottojackpot im kleinen Kiosk von Herrn Haiduk ist mir noch sehr präsent, obwohl zwischenzeitlich schon viele andere Bücher durch meine Hände gewandert sind und viele davon keinen so bleibenden Eindruck hinterlassen konnten. Damit steigen natürlich auch die Erwartungen an den Nachfolger aus der Beckerhoff'schen Feder. Etwas schräg ist aber auch der Sommer bei Gesomina. Beckerhoff bleibt seinem Erzählstil treu. Er sucht sich Figuren, die irgendwie wie am Rand der Gesellschaft stehen und doch auf eine authentische Art und Weise Berlin verkörpern. Gesomina lebt seit über 40 Jahren in Berlin, stammt ursprünglich aus Mogadischu, hat Jahre in Rom verbracht und hält nichts von geschlossenen Schuhen. Sie hat als Erzieherin gearbeitet und auch privat für die Kinder anderer Leute gesorgt. In diesem verregneten Sommer tritt unverhofft ein Schützling von ihr zurück in ihr Leben. Jona hat sie zuletzt vor 5 Jahren gesehen. Nun ist der Junge schon 12 Jahre alt und hält wenig von den Selbstfindungstrips seiner Mutter, die ihn eigentlich für einen langen Sommer mit nach Hollywood nehmen wollte. Doch als Gesomina quasi als letzter Notnagel für einen Abend als Babysitter einspringt, setzt Jona bei seiner Mutter durch, die Ferien bei seiner alten Kinderfrau zu verbringen, statt mit ihr in die Staaten zu fliegen. Sein Vater ist als Unternehmensberater so gut wie nie zuhause, das kennt Jona gar nicht anders. Bei Gesomina hingegen trifft er auf eine völlig neue und andere Welt. In ihrer Straße wohnen merkwürdige und irgendwie exotische Leute. Es ist alles etwas verwohnt, verwahrlost und verschlafen in dieser Berliner Straße. Eigentlich das Gegenteil vom hippen Leben in der Stadtmitte, wo sich die Touristen gegenseitig auf die Füße treten. Jona an Gesominas Seite wirft für die anderen Straßenbewohner neugierige Fragen auf. Plötzlich kommt mit diesem Jungen Bewegung in die eingeschlafene Dynamik der Straße. Und auch Gesomina und Jona müssen sich neu aufeinander einspielen. Der Junge ist neugierig und fragt seiner alten Kinderfrau Löcher in den Bauch. Sie erzählt aus ihrem Leben und kommt nicht umhin, auch irgendwann von ihrem verlorenen Kind zu berichten. Nun will Jona unbedingt diesen Sohn für Gesomina finden und holt unfreiwillig auch einen Teil der Anwohner mit ins Boot.

Beckerhoff inszeniert hier die Enthüllung einer traumatischen Lebensgeschichte, die sowohl den aktuellen Zeitgeist mit der allgegenwärtigen Flüchtlingsdebatte trifft, ohne diesen Zusammenhang wirklich ins Buch zu schreiben, als auch die Problematik der Großstadt, in der Individuen keiner Gruppe mehr angehören, weil die Familie auf einem anderen Kontinent lebt, Lebensentwürfe scheitern und/oder Provisorien am längsten überleben. Man könnte dem Autor vorwerfen, er würde sich klischeehaft Figuren zusammensuchen, um eine Multikulti-Atmosphäre in seiner Beispielstraße herzustellen. Doch merkwürdigerweise nehme ich ihm seine Figuren ab. Es gibt diese Ecken in Berlin, in denen sich ein Supermarkt für eine große Kette nicht mehr rentiert und daraus ein privater Markt wird oder ein Späti. Es gibt auch diese Wohnhäuser, deren Besitzlage unklar ist oder wo ein Investor auf Zeit spielt, das Haus verkommen lässt, um die Bewohner kostengünstig los zu werden. Und es gibt diese kleinen exotischen Läden an den merkwürdigsten Ecken in der Stadt, wo Dinge verkauft werden, die eigentlich niemand braucht.

Beckerhoffs zweiter Roman ist wesentlich melancholischer als sein Erstling. Das liegt unbestreitbar auch am Regen in jenem Erzählsommer. Hauptsächlich aber sind es seine Figuren, die er wie in einer Warteschleife lebend darstellt, als hätten sie aus dem Blick verloren, wo ihr Weg eigentlich langgehen sollte. Figuren, die Luftschlösser träumen und sich der Realität nicht stellen wollen. Figuren, die mal Pause machen vom Leben. Und mittendrin Gesomina, die sich eigentlich gut eingerichtet hat, in einem weitverzweigten Netzwerk über die Stadt verteilt Kontakte pflegt, klar mit beiden Beinen im Leben steht und auch keine großen Erwartungen mehr stellt, ohne das dies bedrückend für sie oder den Leser ist. Nach außen wirkt sie auf die anderen Anwohner anpackend, resolut und geheimnisvoll, als wüsste sie ganz klar, wohin es sie zieht. Doch auch sie weicht sich selbst aus und wird nun von Jona daran erinnert, dass man sich seiner Vergangenheit stellen sollte, um wirklichen Frieden zu finden. Besonders sympathisch ist mir das halb offen gelassene Ende des Buches. Jona ist nämlich kein Heilsbringer oder gar ein deus ex machina, wie ihn der Australier Tom gern gesehen hätte. Er kann den anderen nicht wirklich helfen, mit sich selbst klar zu kommen. Doch sein Sommer bei Gesomina hat ganz kleine Wellen in Gang gesetzt, deren Schwingungen sich die Figuren nicht entziehen können und die unweigerlich für Veränderungen sorgen, einfach auch weil das Leben einen stetigen Strom an Veränderungen mit sich führt. Doch wir Leser müssen uns selbst überlegen, wie das Leben der Figuren weitergehen könnte, wir durften nur einen Sommer bei Gesomina verbringen und müssen in unser eigenes Leben zurück oder in die nächste Lektüre flüchten.

Beckerhoff umfasst im Kleinen mit einer spielerischen Leichtigkeit die großen Probleme unserer Zeit und unserer Gesellschaft, ohne dabei mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger einmal in die Runde zu zeigen. Eine klare Leseempfehlung von meiner Seite.