Rezension

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Rezension zu "Aufstieg und Fall großer Mächte"

Aufstieg und Fall großer Mächte - Tom Rachman

Aufstieg und Fall großer Mächte
von Tom Rachman

Zum Inhalt: Über zehn Jahre lang war Tooly Zylberberg unterwegs, reiste durch Südamerika, Asien und Europa, war in der Welt und doch irgendwie nirgendwo zu Hause, bevor sie die kleine Buchhandlung „World’s End“, einen ehemaligen Pub in einem kleinen Dorf im englischen-walisischen Grenzgebiet, kauft. Hier kommt sie nach langer Zeit erstmals zur Ruhe,  geht in den walisischen Bergen wandern und verkauft natürlich Bücher…wenn auch nicht so viele, dass der Laden gut laufen würde. Mitten in ihrem neuen, beschaulichen Leben erreicht sie eines Tages eine Nachricht von ihrem alten Freund Duncan aus Connecticut,  von der anderen Seite des Atlantik: ihrem Vater gehe es sehr schlecht und sie müsse unbedingt kommen.

Mit der Frage, wen Duncan wohl mit „ihrem Vater“ meinen könne, beginnt Toolys Reise in ihre Vergangenheit – denn es gilt nicht nur die Frage zu klären, wen Duncan momentan als „ihren Vater“ pflegt, sondern endlich Licht ins Dunkel ihrer Vergangenheit zu bringen. Und so beginnt Tooly in Gedanken und Fragen zu kramen, die sie bis dahin in lange nicht mehr geöffneten Schubladen verstaut hatte: „Nur weniges konnte sie so aufwühlen wie das Nachdenken über ihre Vergangenheit.“ (S. 110/111).

Tooly erinnert sich an vieles, seitdem sie ein kleines Mädchen war, und es ist ihr bewusst, dass ihre ungewöhnliche Vergangenheit sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist – doch wie viel von ihrer Vergangenheit versteht sie wirklich? Wie kam es, dass ihr Vater sie als kleines Mädchen entführte und mit ihr von einem Ort zum anderen quer über den Globus zog, ohne jemals länger als ein Jahr an einer Stelle zu verweilen? Wer waren die Männer, die Tooly an seiner statt schließlich großzogen – der verschrobene Russe Humphrey, der für Tooly sein letztes Hemd gegeben hätte, und ihr die große Liebe zur Literatur schenkte? Der charismatische Venn, der als eine Art „Held der Unterwelt“ für Tooly immer so etwas wie ein großer Bruder war – oder doch mehr? Wie kamen diese Männer in ihr Leben – und welche Rolle spielte dabei ihre chaotische Mutter Sarah, die zumeist unerwartet irgendwo auftauchte und die Dinge, wenn schon nicht schlimmer, dann zumindest aber auch nicht einfacher machte?

Eigene Meinung: Dieses Buch kam mir lange Zeit wie ein Puzzle vor. Der Leser lernt Tooly in der Gegenwart, im Jahr 2011 kennen und erfährt recht schnell, dass Tooly allerlei „Altlasten“ aus ihrer Vergangenheit mit sich herum trägt – nicht umsonst meidet sie so gut es geht den Kontakt mit anderen Menschen. „Freunde wollten eine Lebensgeschichte hören. Die Vergangenheit war bloß dann wichtig, wenn andere darüber etwas wissen wollten – sie waren es, die verlangten, dass man eine Geschichte besaß. Allein kam man auch ohne zurecht.“ (S. 61). In Rückblenden erfährt man zentrale Ereignisse aus Toolys Kindheit (1988) und ihrer Vergangenheit als noch junge Erwachsene (1999/2000), und lernt so nach und nach die Menschen kennen, die Tooly bisher durch ihr Leben begleiteten. Es ist streckenweise kein Buch, in dem sich die Ereignisse überschlagen - Tooly lebt in einer ungewöhnlichen, verwirrenden Welt, zunächst mit ihrem krampfhaft unauffälligen Vater Paul, der sich und seine kleine Tochter peinlich vor der Welt versteckt, später an der Seite des Russen Humphrey, der ihr ein väterlicher Freund und eine ihrer engsten Bezugspersonen wird, sowie Venn, der in Toolys Augen ein Held ist und ihr Bild von allem, was sie jemals sein wollte, prägt. Tooly „…hatte dabei doch immer auf ein anderes Leben gehofft – auf ein Wurmloch, durch das sie eines Tages fallen würde, von Venn gerettet.“ (S. 111).

Durch diese Szenerie geistert immer wieder Sarah, von der ich schon früh befürchtet habe, dass  sie, trotz all ihrer schrecklichen Verantwortungslosigkeit, dem Chaos, das sie mit sich bringt und ihrem allgemeinen Unvermögen, Toolys Mutter ist.

Nach und nach setzt sich das Gesamtbild für den Leser zusammen – und auch wenn kapitelweise nicht besonders viel passiert, gelingt es Tom Rachman, das Puzzle von Toolys Vergangenheit so faszinierend und geheimnisvoll auszulegen, dass man unbedingt am Ball bleiben und verstehen will, warum Toolys Leben bislang in diesen Bahnen verlaufen ist und hofft dabei inständig, dass doch bitte ein guter Grund hinter all dem stehen muss…

Die Beschreibung der unterschiedlichen Charaktere ist dabei in meinen Augen ausgesprochen gut gelungen, so schrecklich und abstoßend und gleichzeitig hilflos Sarah geschildert wird, so liebenswürdig und warmherzig und herrlich komisch ist Humphrey. Es gibt neben Tooly mehr als eine weitere Person, für die man sich ein gutes Ende wünschen würde, und doch fragt man sich beim Lesen immer wieder, ob man auch wirklich alles richtig verstanden hat.

Für mich war dies das erste Buch des Autors, das ich gelesen habe, und es hat definitiv Lust auf mehr gemacht – nach der Lektüre wandern „Die Unperfekten“ definitiv auf meinen Wunschzettel!