Rezension

Rezension zu "Der Regen, bevor er fällt"

Der Regen, bevor er fällt - Jonathan Coe

Der Regen, bevor er fällt
von Jonathan Coe

Zum Inhalt: Nach dem Tod ihrer Tante Rosamond kümmert sich ihre Nichte Gill um ihren Nachlass. Beim Ausräumen des Hauses entdeckt sie, dass Rosamond kurz vor ihrem Tod eine Botschaft auf vier Tonband-Kassetten aufgenommen und zusammen mit einem Brief hinterlassen hat. In diesem Brief bittet sie Gill, die Enkelin ihrer Cousine Imogen ausfindig zu machen, und ihr die Tonbandaufnahmen auszuhändigen. Darauf sei ihr Erbe, die Geschichte ihrer Familie, die sie unbedingt erfahren solle…

Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern Catherine und Elizabeth macht Gill sich auf die Suche nach Imogen. Wer ist diese Imogen überhaupt? Nur eine ferne Erinnerung an ein kleines blindes Mädchen, das vor vielen Jahren allein auf dem Geburtstag ihrer Tante Rosamond auftauchte und danach nie wieder gesehen wurde, sind Gill als Erinnerung an sie geblieben. Und warum wurde sie von Rosamond in deren Testament bedacht?

Als schließlich auch nach intensiven Recherchen Imogen nicht ausfindig gemacht werden kann, hört Gill sich gemeinsam mit ihren Töchtern die Tonbänder schließlich an, in der Hoffnung, darauf einen Hinweis auf ihren Verbleib zu finden.
Rosamond erzählt darauf anhand von zwanzig ausgewählten Fotos ihre eigene Lebensgeschichte, die eng verknüpft mit der Geschichte von drei Generationen Frauen in der Familie ist - eine Geschichte, die während des zweiten Weltkriegs ihren Beginn hatte und bis in die Gegenwart reicht.

Und plötzlich ist Gill mittendrin in einer Geschichte von gegenseitigen Grausamkeiten, Verletzungen der Seele die von einer Generation auf die nächste weitergegeben wurden, einer Geschichte, die sowohl Imogens als auch ihre eigene Familiengeschichte ist.

Eigene Meinung: Immer wieder musste ich mir beim Lesen vor Augen halten, dass diese wunderbare Familiengeschichte, die so gefühlvoll und facettenreich erzählt wird und die in Form der Tonbänder Rosamond in den Mund gelegt ist, aus der Feder eines männlichen Autors geflossen ist. So sehr ist es dem Autor gelungen, die Figur Rosamond über immerhin sechs Lebensjahrzehnte darzustellen, ihre Sichtweise auf die dramatischen Ereignisse innerhalb der Familie und ihre eigene Hilflosigkeit zu schildern. Neben diesem Hauptplot hat Jonathan Coe mit Rosamond eine Protagonistin geschaffen, die in den Fünfziger und Sechziger Jahren, als dies noch ein großes gesellschaftliches Tabu war, ihre Homosexualität auslebte, dadurch selbst an den Rand der Gesellschaft rückte und in all ihren Schattierungen sehr authentisch dargestellt wird. Respekt! Durch diese Protagonistin beweist der Autor Jonathan Coe ein unglaublich starkes Einfühlungsvermögen, was für die Darstellung der den Leser durch die Geschichte führenden Rosamond aber auch ein unbedingtes Muss ist.

Die Geschichte selbst lebt meiner Meinung nach davon, dass sie beim Leser ein ambivalenes Gefühl zu nahezu allen Frauen in der Geschichte hinterlässt – so sieht man doch bei Beatrix und Thea – Imogens Großmutter und Mutter – sowohl das emotional misshandelte und dadurch emotional verkrüppelte Kind, und gleichermaßen auch die Täter, deren innere Stärke einfach nicht ausreicht, um die Narben auf der eigenen Seele nicht durch Grausamkeit an ihre eigenen Töchter weiter zu geben.

Die beiden Zeitebenen – die Gegenwart sowie Rosamonds Erzählung aus der Vergangenheit, die eine über sechzig Jahre reichende Geschichte wiedergibt, sind kunstvoll miteinander verwoben und greifen gut ineinander.  Die Geschichte wird in einem zügigen Tempo erzählt, hat dabei aber die Zeit, wunderschöne Bilder und Stimmungen entstehen zu lassen. Ausgesprochen gut hat mir gefallen, wie kunstvoll Rosamond der blinden Imogen beschreibt, was auf den zwanzig Fotos, die durch ihre Lebensgeschichte führen, zu sehen ist.

Meine Empfehlung: beim Lesen unbedingt „Bailero“ aus den „Liedern der Auvergne“ anhören – die Melodie wird von Rosamond immer wieder erwähnt und ist mit ihren wichtigsten Erinnerungen verknüpft. Für mich konnte sie sehr schön die Stimmung des Buches spiegeln.