Rezension

Robin Hood 2030

Reality Show -

Reality Show
von Anne Freytag

Bewertet mit 4 Sternen

Inhalt:

Weihnachten, Anfang der 2030er Jahre:
Im Fernsehen läuft nicht etwa „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Eine Gruppe anonymer Aktivist*innen hat öffentlich-rechtliche wie auch private Sendeanstalten gekapert. Die „Reality Show“ läuft auf allen Kanälen.

Die Protagonist*innen sind nicht etwa die üblichen Trash-TV-Größen, sondern 42 Geiseln, welche die Gruppierung an diesem Abend in ihre Gewalt gebracht hat. Die zehn reichsten und einflussreichsten Menschen Deutschlands und ihre Familien werden in ihren Häusern gefangen gehalten. Sie sollen live vor ein Gericht gestellt werden. Millionen von Menschen werden darüber urteilen, ob und wie ihre Verbrechen zu verteilen sind.

Meine Meinung:

Die Frage, die sich mir beim Lesen von „Reality Show“ am allermeisten gestellt hat, war: „Wie viel von alldem ist Fiktion?“ Ich habe keine Vorstellung davon, in welche Form von Verbrechen die Eliten unseres Landes wirklich verstrickt sind, oder ob das Legendenbildung ist.

Darüber hinaus wirft das neue Buch von Anne Freytag aber auch viele andere Fragen auf. Zum Beispiel: Was darf man im Namen der Gerechtigkeit?

Die Gruppe, die hinter der Reality Show steckt, bezeichne ich im Folgenden als Terroristen. Das Buch nutzt diesen Begriff nicht. Aber genau das ist es, was sie sind. Terroristen, die Verbrechen begehen im Namen einer Ideologie, einer Weltanschauung, an die sie glauben. Und dabei sind sie mir unglaublich sympathisch. Denn man kann nicht anders, als das, was sie tun, gut und richtig zu finden. Märchenhaft ritterlich das eigene Leben und die eigene Freiheit für das Wohl der Gesellschaft auf’s Spiel zu setzen. Einmal habe ich mir beim Lesen sogar gewünscht, eine solche Show würde es wirklich geben. 

Das Buch erzählt die Geschichte eines Heiligabends. Mit jedem neuen Kapitel wird die Perspektive und manchmal auch die Zeitebene gewechselt. Sehr sehr viele Personen agieren: Terroristen, Geiseln, Zuschauer, Polizei. Manchmal sind mir das zu viele gewesen, bzw. zu wenig Buch für zu viele Menschen, die sich zwischen den Seiten drängen. Ich musste immer wieder nachsehen, wer jetzt nochmal wer war, welche Geschichte zu welchem Namen gehört. Mir hätte es besser gefallen, wenn die einzelnen Schicksale etwas tiefer ausgearbeitet worden wären, so ist für mich einiges unaufgeklärt geblieben. Auch im Bezug auf die Logik bin ich nicht immer hinterher gekommen. Ich denke, das liegt an den zahlreichen harten Cuts, die die Geschichte macht. Manchmal bin ich mir nicht sicher gewesen, ob ich eine Auflösung richtig verstanden habe, dann bin ich ein paar Kapitel zurückgegangen, habe nochmal gelesen und es immer noch nicht verstanden. Dadurch bleibt bei mir eine Art Druck bestehen, ein Drang zur Erklärung, der unbefriedigt ist. 

Nichtsdestotrotz ist „Reality Show“ ein sehr besonderes Buch mit einem überaus dichten Spannungsbogen. Es zeichnet eine düstere Version vom zukünftigen Deutschland, die ich aus heutiger Perspektive ziemlich realistisch finde. 

Anne Freytag gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, insbesondere weil ich ihre Sprache so wunderschön finde. Am besten ist sie für mich, wenn sie Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen beschreibt, das ganz besonders auch in den Kernmomenten eines Romans. Die Szenen, in denen die Geschichte knackt vor Spannung, in denen es richtig wichtig wird. Das kann sie einfach und das wird auch in „Reality Show“ deutlich. Doch obwohl mich das Buch inhaltlich so sehr abgeholt hat und ich es kaum aus der Hand legen konnte, ist es nicht mein Lieblingsbuch von ihr. Dazu hat es zu viel angedeutet, mich an zu vielen Stellen gelockt und diese Teilgeschichten dann nicht richtig zu Ende erzählt. 

Fazit:

„Reality Show“ ist ein absolut lesenswertes Buch voller (berechtigter) Systemkritik. Ein Buch für Idealisten, das den Wunsch nach Veränderung aufleben lässt, wenngleich man ich mich selbst von der Wucht der Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft ein wenig erschlagen gefühlt habe. Ich finde, dass diese Wucht des Themas ein dickeres Buch und eine detaillierter Abhandlung gebraucht hätte, um sich wirklich vollends entfalten zu können.