Rezension

Roh und fast zerschmetternd traurigschön

C'est la fucking vie - Michaela Kastel

C'est la fucking vie
von Michaela Kastel

Bewertet mit 4.5 Sternen

Worum geht's?

Keine Lügen, kein Aufplustern oder Verstecken, nur die nackte, rohe Wahrheit. Je roher, desto besser. In der Rohheit der Dinge liegt ihr ganzer Reiz. Bei mir gibt es keine Fassade. Wer mich nimmt, kriegt, was er sieht. (S. 38)

Der Sommer nach dem Abi: Sanni wird ihren Achtzehnten feiern, sich treiben lassen, mit ihrer Clique in den Tag hineinleben. Sie fiebert darauf hin, nach Australien zu reisen, am liebsten mit ihrem langjährigen besten Freund Niko – wenn der sich endlich dazu entschließen kann, mal nicht auf seine Eltern zu hören.
Doch dann entwickelt sich alles anders als geplant und lang Unterdrücktes drängt an die Oberfläche. Auf einmal steht sie vor der Wahl: Niko verlieren oder sich zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine echte Beziehung einlassen?

Was mich neugierig gemacht hat:

Schon „Worüber wir schweigen" habe ich wahnsinnig gern gelesen und das neue Buch von Michaela Kastel war danach ein Must Read für mich. Ich war total gespannt auf die Umsetzung des Lebenshungerthemas und dieser sehr besonderen und nicht ganz unkomplizierten Beziehung zwischen zwei jungen Menschen mit gegensätzlichem Naturell.

Dieser dickere Pappeinband ist toll gewählt und passt super zur Geschichte. Titel und Cover dagegen hätten mich jetzt, wäre ich nicht schon Fan der Autorin gewesen, nicht wirklich angesprochen, da ich sie als zu effekthascherisch empfinde (was die Story definitiv nicht nötig hat).

Wie es mir gefallen hat:

Ich feiere Michaela Kastel für ihre Charaktere! Das tue ich wirklich.
Im wahren Leben würden sie mich wahrscheinlich fertigmachen mit ihren Ecken und Kanten, ihren Grundeinstellungen und ihrer Sicht aufs Leben ... und doch: Sie faszinieren mich und erreichen mich irgendwo tief innen. Es ist unfassbar spannend, sich auf ihre Gedankenwelt einzulassen, durch sie vielleicht sogar das eine oder andere über Menschen zu lernen, die man bisher nie verstanden hat.
In diesem Buch betrifft das in allererster Linie die Protagonistin und Ich-Erzählerin Sanni. Sie wirkt so selbstbewusst und verloren zugleich, besserwisserisch und nichtsahnend, wild und verletzlich. Und so intensiv auf der Suche nach mehr Leben.
Ihr Gegenpart Niko, den sie die ganze Geschichte über mit „Du" anspricht (was mir persönlich sehr sehr gut gefallen hat) ist viel bodenständiger, zukunftsorientierter, zielstrebiger. Hier prallen zwei Welten aufeinander, die zusammengehören, paradox und traurigschön.
Auch die Nebencharaktere (die Clique, Sannis Mitbewohnerin, Nikos Freundin, die Eltern, ...) fügen sich gut ins Ganze ein.

Während viele „oberflächlichere" und Dinge die Handlung zu dominieren scheinen, brodeln darunter tiefgründige Fragen. Was, wenn man einander liebt, aber seine Liebe grundsätzlich anders auslebt? Was, wenn die Definitionen von Beziehung viel zu weit auseinanderklaffen, um vereinbar zu sein? Und was passiert überhaupt mit zwei Individuen, die es plötzlich (nur noch?) als Paar gibt? Gibt es dabei eine Machtverteilung? Welche Prägungen haben wir mitbekommen, was unsere Vorstellung von der Liebe angeht?
Der Autorin gelingt es auf eindrückliche Weise, die Entwicklung einer vielleicht schon lange mehr als freundschaftlichen Beziehung in all ihren Facetten zu zeigen. Zu kaum einem Zeitpunkt kann man wirklich sagen, ob Glück oder Zweifel überwiegen, Unsicherheiten und Opfer oder das Über-sich-Hinauswachsen.

Der Erzählstil des Buches hat mich sehr für sich eingenommen und eine richtige Sogwirkung auf mich ausgeübt. Allerdings finde ich es ein bisschen widersprüchlich, dass Sanni so eine poetische Sprache in den Mund gelegt wird. Das passt eigentlich so gar nicht zu ihr. (Trotzdem hätte ich es nicht anders haben wollen, dafür liest es sich einfach zu toll!)

Mit ein paar Dingen und auch dem Ausgang habe ich mich persönlich schwergetan. Das gilt aber nur eingeschränkt als Kritikpunkt. Ich halte den Verlauf schon für sehr authentisch und passend für die Charaktere. Dennoch sehe ich ein bisschen zu viel von aktuellen Trends darin und hätte mir mehr Kommunikation und Gegenseitigkeit gewünscht, selbst wenn es gleich geendet hätte. So ringe ich noch sehr mit dem „Hätte" und „Wäre" und frage mich, was inwieweit noch offen ist und gut oder schlecht weitergehen könnte.

(Für wen) Lohnt es sich?

Es lohnt sich auf jeden Fall! Allerdings finde ich, dass es kein reines Jugendbuch ist, sondern eher für Leser*innen ab der Altersstufe der Charaktere (17+) und drüber, weil es auf den Partys usw. hart zur Sache geht. Tatsächlich hätte ich die Figuren, hätte es keine Angabe dazu gegeben, sogar auf Anfang/Mitte 20 geschätzt. Aber andererseits passt der Sommer nach dem Abi natürlich gut zu den Thematiken, auf die das Buch hinauswill.
Meiner Meinung nach eine Geschichte mit sehr viel Potenzial zum Reflektieren und Nachdenken und weniger leichte Unterhaltung, als man erwarten könnte.

In einem Satz:

„C'est la fucking vie" ist absolut mitreißend erzählt, wirft viele bedeutsame Aspekte des Erwachsenwerdens und von Liebesbeziehungen auf und wirkt nach dem Lesen lange nach.