Rezension

Romantik expressionistisch

Fräulein Nettes kurzer Sommer - Karen Duve

Fräulein Nettes kurzer Sommer
von Karen Duve

Bewertet mit 5 Sternen

Der Wagen rollte rasch dahin und wieder kamen sie durch die lange Pappelallee, und die in Reih und Glied gestellten Bäume wischten an den Fenstern vorbei und wischten die traurigen Gedanken weg, sodass man endlich ins Plaudern kam. Weit hinter ihnen lag Kassel im Morgennebel.

Dies ist ein Roman über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, von der wir einst in der Schule die gruselige "Judenbuche" lasen, das Werk, mit dem ihr damals der Durchbruch gelang. Die hier beschriebene Geschichte spielt sich wenige Jahre zuvor ab. Die knapp über zwanzig-jährige Annette lebt wohbehütet im goldenen Käfig ihrer adligen Herkunft. Man reist viel in unbequemen Kutschen von einem Adelsschlösschen zum Nächsten, um allen lieben Verwandten gerecht zu werden, strickt, handarbeitet bitteschön anständig vor sich hin, spielt meinetwegen auch Klavier, aber bitte nicht so leidenschaftlich wie Annette, übt belanglose Konversation und beteiligt sich auf keinen Fall an den wesentlich interessanteren Männergesprächen, schon gar nicht so vorlaut, wie Annette dies tut. Annette eckt an. Ständig. Ja, natürlich scheint sie eine dichterische Begabung zu haben, die im Rahmen der häuslichen Anwendung gefördert werden sollte, aber dann ist es bitteschön auch gut damit. In dieser für sie unbefriedigenden Situation lernt sie Heinrich Straube kennen, einen von ihrem Onkel August von Haxthausen geförderten einfühlsamen jungen Dichter, und verliebt sich in ihn. Endlich jemand, der sie versteht. Der adligen Verwandtschaft allerdings ist die sich entspinnende Beziehung zwischen dem Freifräulein und dem nicht standesgemäßen mittellosen Dichter ein Dorn im Auge. Ein perfides Intrigenspiel nimmt seinen Lauf ...

Ich bin immer noch sprachlos darüber, was Karen Duve mit diesem epochalen Werk geschaffen hat. Ihrer eigenen Aussage nach bleibt sie dabei sehr nah an den akribisch zusammengetragenen historischen Fakten. Sehr gut finde ich, dass sie direkt im Vorwort sagt, was echt ist und was nicht. Sie ist sich der manipulativen Wirkung historischer Romane sehr bewusst und will dem Leser gleich reinen Wein einschenken; das gefällt mir. Aber gemeiner hätte man meine Namensschwester nicht einführen können: "...und ein zartes, sehr blondes und etwas glotzäugiges Freifräulein." Gut, vielleicht soll sie keine Heldin werden. Aber wer beobachtet denn auf solche zynische Weise die Menschen? So begann ich meine Lektüre mit recht gemischten Gefühlen, wurde aber schon bald von Karen Duves Sprachwitz und ihrer souveränen Erzählweise mitgerissen. Herrlich, wie sie die von Burschenschaften nur so wimmelnden derben Göttinger Studentenkreise lebendig werden lässt, in welchen Straube und von Haxthausen sich zur "Poetischen Schusterinnung" zählen. Da bleibt kein Auge trocken, bzw., äh, das von Straube, heil...

Immer wieder gibt es kurze allgemein-historische Einschübe, zum Beispiel die heftige Schilderung des Kotzebue-Attentats - sarkastisch-distanziert und etwas schnoddrig. Vielleicht muss es genau so sein. Besser jedenfalls, der Leser schlägt sich in den politischen Wirren nicht zu früh auf eine Seite; es könnte nach hinten losgehen ... Der Bericht über die Würzburger Studentenkrawalle gegen die Juden liest sich schmerzhaft, erinnert er mich doch frappierend an ähnliche dümmliche Pauschalisierungsmuster unserer Zeit. Nicht nur hier wird der Roman erschreckend aktuell, und das ist durchaus von der Autorin so gewollt. Ja, sie überspitzt die Anspielungen sogar gelegentlich etwas, wenn sie zum Beispiel auf Neudeutsch vom "schwarzen Block der Altdeutschen" spricht. Längst sind wir mitten in die Schusslinie geraten zwischen dem Neuen und dem Alten, dem Weltoffenen (Französischen, das soeben versagt hat, denn Napoleon zeigte sein wahres Gesicht und wurde besiegt) und dem von einigen Protagonisten sehr gerühmten Deutsch-Nationalen, das in seiner Zuspitzung auch nicht geheuerer ist als der Imperialismus eines Napoleon Bonaparte. Und über allem steht der gute Familienfreund Wilhelm Grimm, der mit seiner Märchensammlung auf ganz eigene Weise versucht, "Das Alte" zu retten.

Und immer wieder diese grotesken Studentengelage in Göttigen - also dafür lasse ich die Autorin mal hochleben. Die Dialoge sind - umwerfend gut.

Aber wo bleibt bei alledem Fräulein Nette?

Langsam wie ein Molch schob Annette sich wieder rückwärts aus dem Raum, zurück ins gelbe Zimmer und dann hinaus auf den Flur. Das war knapp.

Es wird uns klar, dass sie an all dem politischen Geschehen keinen Anteil hat, keinen haben soll. Sie ist in die stille Beobachterposition gezwungen, und weil sie sich damit nicht zufriedengeben kann, stört sie.

Mein Verhältnis zur Roman-Annette blieb anfangs etwas distanziert; man hat zunächst wenig Einblick in ihr Innenleben, kann sich aber vieles aus ihren teils rebellischen, teils ungeschickten Verhaltensweisen und den Reaktionen darauf zusammenreimen. Aber was man von Anfang an begreift, drastisch begreift: die Zwangsnivellierung, die einer hochbegabten Frau in jener Zeit widerfahren konnte, hatte Ausmaße, die wir uns heute nur noch schwer vorstellen können.

Nicht mit allen Details der Vorgänge auf dem Bökerhof bin ich einverstanden. Manches scheint mir etwas aus einem heutigen Selbstverständnis heraus konstruiert. An einer Stelle wird die Intrige derart hinterhältig, dass ich dachte, jetzt trägt sie aber doch ein bisschen arg auf. Andererseits kennt die Autorin die historische Wahrheit viel genauer als ich und hat offensichtlich verflixt gut recherchiert (entsprechend findet sich im Anhang ein erlesenes Literaturverzeichnis). Vielleicht ist an jenen Stellen die Lektüre so unerträglich, weil die historische Wahrheit tatsächlich so krass ist ...

Ich brauchte ein wenig, um mit der sarkastischen (und meinem Gefühl nach etwas expressionistischen) Schreibweise der Autoren warm zu werden, las dann aber mit wachsender Begeisterung. Frau Duve versteht mit der Sprache umzugehen, dass es ein Freude ist. Immer wieder wird man von wunderbaren Pointen überrascht, trocken und treffend. Man erfährt viel über die große Dichterin und ihre Umgebung, vielleicht mehr, als man eigentlich hören wollte; ein eindrückliches Gemälde des frühen 19. Jahrhunderts und dessen Geisteshaltungen vermittelt sich und lässt den Leser mit einer Fülle von neu erworbenen Einsichten zurück. Dann benutze ich es eben mal wieder, das etwas plakative, aber sehr treffende Schlagwort: Ganz großes Kino!