Rezension

Rückkehr zur Natur - ein Kampf ums Überleben...

Herz auf Eis
von Isabelle Autissier

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein Sabbatjahr wollen sich Ludovic und Louise gönnen, eine Auszeit von ihrem ewiggleichen Pariser Leben, ein Abenteuer. Mit einer kleinen Jacht leben sie ihren Traum von Freiheit und begeben sich auf eine Tour durch den Atlantik. Von den Antillen bis nach Kap Hoorn verläuft die Reise reibungslos, doch dann beschließen sie, verbotenerweise eine kleine Insel anzulaufen, um den maroden Flair einer verfallenen ehemaligen Walfangstation zu genießen. Als während der Erkundung der einsamen Insel ein Unwetter einsetzt, drängt Louise darauf, zur Jacht zurückzukehren. Doch Ludovic will sich das einmalige Erlebnis nicht verderben lassen - denn sind es nicht genau solche Abenteuer, weshalb sie aus ihrem bisherigen Leben ausgebrochen sind?

"Hätte er auf sie gehört, wären sie jetzt gar nicht hier, majestätisch, vollkommen allein am Ende der Welt. Sie hätten das Schiff nicht gekauft und diese grandiose Reise gar nicht angetreten. Tatsächlich, der Himmel verdüstert sich in der Ferne, aber schlimmstenfalls werden sie eben nass. Das gehört zum Abenteuer dazu, genau das ist doch ihre Absicht, aus der Erstarrung des Pariser Büroalltags auszubrechen, in dessen bequemer Trägheit sie draufzugehen und an ihrem Leben vorbeizuleben drohten. Irgendwann hätte der sechzigste Geburtstag vor der Tür gestanden, und sie hätten es bereut, nichts erlebt, nie gekämpft, sich selbst nie kennengelernt zu haben." (S. 8 f.)

Als die Wetterlage noch schlimmer wird, beschließen die beiden jungen Leute, die Nacht auf der Insel zu verbringen und den Sturm abzuwarten. Als sie am nächsten Morgen aus der ehemaligen Unterkunft der Walfänger treten, erwartet sie jedoch nicht nur ein blauer Himmel. Ihre Jacht ist im nächtlichen Unwetter verschwunden - und mit ihr jede Hoffnung auf eine Rückkehr in die Zivilisation. Die prekäre Lage zwingt Louise und Ludovic, sich nicht allzu lang der Verzweiflung hinzugeben - sie müssen alles tun, um nicht zu verhungern.

Das Paar beginnt, den neuen Alltag zu organisieren, der einzig und allein dem Versuch gilt, in dieser unwirtlichen Umgebung zu überleben. Selbst im Sommer beträgt die Höchsttemperatur auf der Insel im Südatlantik lediglich 15° Celsius - da muss das Feuer stets geschürt werden. Das größte Problem jedoch stellt die Beschaffung von Nahrung dar. Wo nichts wächst und Pinguine und Robben die einzigen ererichbaren Lebewesen sind, hat man keine Wahl, wenn es ums nackte Überleben geht. Das Jagen und Schlachten der Tiere gehört bald zu den täglichen Gewohnheiten.

"Alles stinkt nach Rauch, nach ranzigem Fett und Feuchtigkeit. Sie bemerken es nicht einmal mehr. Der Geruch ist ihrer geworden, der Geruch ihres Lebens." (S. 69)

Und doch wird der Hunger zu einem Dauergast. Ludovic und Louise werden immer dünner, obwohl sie stetig versuchen Nahrung zu beschaffen und gleichzeitig nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage zu suchen. Wie aus der Zivilisation gefallen fühlen sie sich, herauskatapultiert aus der menschlichen Gesellschaft, alleine einer feindlichen Umwelt gegenüber. Das überlieferte Wissen früherer Generationen ist ihnen nicht mehr gegeben - jeden Schritt müssen sich die beiden mühsam erarbeiten, jeden einzelnen Bissen hart erkämpfen. Die Rückkehr zur Natur entpuppt sich als gnadenloser Kampf ums Überleben. Und da, wo die Instinkte zunehmend überwiegen, droht das Menschliche zu versiegen.

"Dieses jämmerliche Dasein hat nicht nur ihren Wohlstand zunichte gemacht. Die Angst hat das Allerwichtigste zerstört: ihre Gefühle, ihre Menschlichkeit. Völlig bloß steht sie da, besessen einzig von dem Drang zu überleben, nicht anders als irgendeins der Tiere, die sie täglich sieht." (S. 113)

Isabelle Autissier, die selbst als erste Frau allein die Welt umsegelte, weiß, wovon sie da schreibt - von der Faszinaion der Natur, dem Zurückgeworfenwerden auf sich selbst, der großen Einsamkeit. Die Einsamkeit zu zweit ist eine ganz besondere, und minutiös beobachtet die Autorin das Geschehen zwischen dem Paar, die Veränderung ihres Verhaltens und ihrer Beziehung zueinander angesichts der existenziellen Bedrohung auf der einsamen Insel. Wächst man zusammen oder driftet man vielmehr auseinander? Hat das Mitmenschliche noch eine Chance, wenn die Instinkte beginnen zu regieren, der reine Überlebenswille?

Gegliedert ist der Roman in zwei Hauptteile - und der zweite Teil spielt in der Zeit nach der Robinsonade. Mehr kann und möchte ich hier nicht verraten, weil ich sonst zu viel vorwegnehmen würde. Doch auch dieser zweite Teil ist atmosphärisch dicht und überzeugt durch genaue Beobachtungen in klarer, präziser Sprache - Leben und Gefühle unter dem Seziermesser, gnadenlos offengelegt. Nicht nur die bildhaften Schilderungen der kargen Einöde auf der Insel, die sich unter den Naturgewalten duckt, ließen mich beim Lesen frösteln - auch die existentiellen Fragestellungen lösten diesen Effekt aus. Und letztlich auch die Frage, wie ich selbst mich in bestimmten Situationen in dieser Extremsituation wohl verhalten hätte und ob das mit dem Bild übereinstimmen würde, das ich gewöhnlich von mir zeichne.

Ein eindringlicher Roman, der nicht zuletzt auch die Frage stellt, was das Menschsein eigentlich ausmacht. Beeindruckend...

© Parden