Rezension

Ruhige, tiefgründige Charakterstudie mit kleinen Schönheitsfehlern

Kleine Feuer überall
von Celeste Ng

~ „Kleine Feuer überall“ ist ein Buch der ruhigen Töne, das seine Themen wie Mutterschaft, Familie und Erwachsenwerden tiefgehend behandelt und das mit der liebevollen Figurenzeichnung, der nuancierten Beschreibung der Emotionen und dem wundervollen, detaillierten Schreibstil begeistert. Für mich war das Buch dennoch nicht ganz perfekt: Manchmal ging mir der Schreibstil etwas zu sehr ins Detail, auch etwas mehr Spannung hätte es zwischendurch sein dürfen und das Slutshaming gegen Ende des Buches war mir ebenfalls ein Dorn im Auge. ~

Inhalt

Shaker Heights ist keine natürlich gewachsene Gemeinde, sondern wurde sorgfältig geplant. Und genauso durchorganisiert und reglementiert gestaltet sich das Leben dort. Das Straßennetz wurde so angelegt, dass kein Kind jemals auf dem Schulweg eine große Straße überqueren muss, genau berechnete Kurven vermeiden zu hohe Geschwindigkeiten, der Müll wird diskret hinter dem Haus abgeholt, um niemandem diesen furchtbaren Anblick zuzumuten, und die Häuser dürfen in nur in bestimmten Farben gestrichen werden, damit sie perfekt zueinander passen. Inmitten dieser Idylle lebt Mrs. Richardson mit ihrer wohlgeratenen Familie ein komfortables Leben ohne Überraschungen. All dies ändert sich jedoch, als sie ihr Zweithaus an Mia, eine Künstlerin, und deren Tochter Pearl vermietet. Mrs. Richardsons perfekt getaktete Welt gerät aus dem Rhythmus, Mias Unberechenbarkeit und völlig anderen Lebensstil nimmt die Mutter als Bedrohung wahr. Bedeutende Veränderungen werden durch Mia und Pearls Ankunft in Shaker Heights angestoßen - am Ende wird nichts mehr wie vorher sein…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Mischung aus figuralem und auktorialem Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus vielen verschiedenen (hauptsächlich weiblichen) Perspektiven
Kapitellänge: mittel bis lang (ca. 15-25 Seiten)
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Ich habe das Debüt der Autorin nicht gelesen, stolperte aber über unzählige begeisterte Rezensionen im englischsprachigen Bereich, sodass ich das Buch unbedingt lesen wollte.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Dieses Buch hat mit Sicherheit einen der genialsten Anfangssätze, der jemals LeserInnen-Herzen höherschlagen ließ. Bitte, lasst euch diese Perle auf der Zunge zergehen:

„In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte.“ Seite 9

Danach verlief der Einstieg, vor allem aufgrund der großen Figurenzahl, nicht absolut mühelos, jedoch kam ich mit jeder Seite, auf der man die Personen näher kennenlernt, besser in die Geschichte hinein.

Inhalt, Themen & Botschaften (+)

Celeste Ngs zweites Werk ist ein Buch der ruhigen Töne, das sich weniger auf große Ereignisse als auf das Innenleben seiner Figuren und auf den Schauplatz mit all seinen Regeln, Möglichkeiten und Erwartungen konzentriert. Wie so oft verbergen sich hinter einer schönen, geradezu perfekten Fassade Chaos, Ängste, Zweifel und dunkle Geheimnisse. Doch in „Kleine Feuer überall“ geht es auch um Familie, um Träume, Liebe und Hoffnungen, ums Ankommen und Erwachsenwerden und um die Frage, was wahres Glück ist und was Mutterschaft im Kern ausmacht. Ist es besser, den richtigen Weg zu gehen oder den leichten? Was braucht ein Kind, um glücklich aufzuwachsen? Dabei liefert die Autorin meist keine klaren Antworten, sondern lässt die LeserInnen in den (moralischen) Graubereichen zurück, lässt sie selbst abwägen und nachdenken über Fragen, auf die es keine klare Antwort gibt. Die gewählten Themen und verschlungenen Handlungsstränge der Geschichte behandelt die Autorin dabei tiefgehend und eindrucksvoll.

„Man wünschte sich nichts sehnlicher, als sein Kind in den Arm zu nehmen und so fest zu halten, dass man mit ihm verschmolz, doch was man bekam, war nur ein flüchtiger an die Schulter gelehnter Kopf. Es war, als übte man vom Duft eines Apfels zu leben, wenn man ihn doch eigentlich verschlingen, wenn man mit den Zähnen hineinbeißen und ihn samt Kerngehäuse und allem auffressen wollte.“ Seite 284

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil voller Details, gelungener Vergleiche, wunderschöner Formulierungen und weiser Momente hat mich von der ersten Zeile an bezaubert. Er ist teilweise komplex und fordernd, kann nicht nebenbei gelesen werden, ist dabei aber niemals kompliziert oder gestelzt. Im Gegenteil, die Sätze fließen beim Lesen richtig angenehm dahin, Celeste Ngs erzählerisches Talent ist auf jeder Seite spürbar. Etwas gewöhnungsbedürftig dürften für manche LeserInnen die vielen Perspektivwechsel sein - ich jedoch fand sie nicht störend, weil die Autorin die Übergänge gut gestaltet hat. Nur selten ging mir die Autorin etwas zu sehr ins Detail.

„Ihr ganzes Leben hatte sie gelernt, dass Leidenschaft, genau wie Feuer, gefährlich war, leicht außer Kontrolle geriet, Wände hochkletterte und Gräben übersprang. Funken hüpften wie Flöhe und verbreiteten sich genauso schnell; ein Windhauch konnte Glutasche meilenweit tragen. Man musste diesen Funken unter Kontrolle halten […] Es kam einzig darauf an, dachte sie, einen Flächenbrand zu vermeiden.“ Seite 186

Figuren (+)

Auch in die Figuren hat Celeste Ng ohne Frage viel Herzblut gesteckt: Sie sind liebevoll ausgearbeitet und haben alle ihre guten, sympathischen Seiten. Doch auch ihre Schwächen, Selbstzweifel und dunklen Geheimnisse bleiben den LeserInnen nicht verborgen. Meinungen über Figuren werden beim Lesen gebildet, revidiert, über den Haufen geworfen, weil man die Personen und ihre Vergangenheit, die sie zu denen gemacht hat, die sie sind, immer besser verstehen kann. Gefühle werden bis in die kleinsten Nuancen sehr intensiv beschrieben, die Beziehungen der Figuren untereinander in den Fokus gerückt, so dass man sehr mit den Figuren mitfühlen kann. Toll! Lediglich die männlichen Rollen bekommen (wie schon viele andere LeserInnen angemerkt haben) zuweilen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

„Am Abend weinte sie, und als sie eingeschlafen war, weinte ihr Mann.“ Seite 152f

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Die Atmosphäre im Buch ist ruhig, dennoch gibt es auch spannende Abschnitte und Geheimnisse, die ergründet werden wollen. Atemlose Spannung findet man in diesem Roman natürlich dennoch nicht. Die Liebe zu den Figuren und die Neugier lassen einen dennoch gerne und schnell weiterlesen. Manche Stellen hätten dennoch etwas mehr Spannung vertragen, sie erschienen mir etwas langatmig.

Geschlechterrollen (+/-)

Über weite Teile des Buches war ich sehr zufrieden, was diese Kategorie betrifft und dachte sogar, ich würde den Aspekt dieses Mal gar nicht ansprechen müssen. Die Frauen sind selbstbestimmt und ergreifen aktiv die Initiative, sowohl was ihr Liebesleben angeht als auch ihre Ausbildung und berufliche Chancen, und Männer dürfen Gefühle zeigen. Dann jedoch kommt es zu einer Wendung im Buch, bei der eine Person sehr enttäuscht wird. Aus Wut über eine Frau folgt „Slutshaming“ wie aus dem Bilderbuch. Und spricht man, wenn man wütend ist, nicht oft gerade das aus, was man sich sonst auch heimlich denkt? Auch toll: Wenn eine Frau sich aufregt oder irgendwie Männer „nervt“, dann wird einmal gleich vermutet, dass sie ihre Tage bekommt. So wird versucht, ihre Gefühle kleinzureden. Es kam im Buch zu Sätzen (leider auch von Frauen) wie „‘Ich dachte, du wärst klüger als die Schl*mpen, die sich sonst mit ihm einlassen.‘“ (Seite 313), „‘Du hast mein T-Shirt geklaut, Schl*mpe‘, sagte sie zu Pearl in liebevollem Ton […]“ (Seite 309) und „‘Hör zu, sie hat sich entschieden rumzuh*ren.‘“ (Seite 362). Ja, Literatur soll das Leben abbilden, wie es wirklich ist – gleichzeitig formen Medien wie Bücher auch unser Weltbild. Und das sollte eben nicht rückständig und frauenfeindlich sein. Diese Verantwortung muss vielen Autoren und Autorinnen endlich bewusst werden.

Mein Fazit

„Kleine Feuer überall“ ist ein Buch der ruhigen Töne, das seine Themen wie Mutterschaft, Familie und Erwachsenwerden tiefgehend behandelt und das mit der liebevollen Figurenzeichnung, der nuancierten Beschreibung der Emotionen und dem wundervollen, detaillierten Schreibstil begeistert. Für mich war das Buch dennoch nicht ganz perfekt: Manchmal ging mir der Schreibstil etwas zu sehr ins Detail, auch etwas mehr Spannung hätte es zwischendurch sein dürfen und das Slutshaming gegen Ende des Buches war mir ebenfalls ein Dorn im Auge.

Empfehlung: Ein Buch für alle Fans von Familiengeschichten, Charakterstudien und ruhigen Tönen. Wer noch nie ein Buch der Autorin gelesen hat, sollte ebenfalls einen Versuch wagen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne 
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 4,5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 gute Lilien! Celeste Ngs Debüt landet somit auf meiner Wunschliste!