Rezension

Rund, gefühlvoll, eindrücklich

Jesolo - Tanja Raich

Jesolo
von Tanja Raich

Bewertet mit 4 Sternen

Andi, Anfang 30, ist ungewollt schwanger. Eigentlich möchte sie das Kind nicht oder zumindest nicht so richtig und von Georg möchte sie sich eigentlich auch trennen. Seit frühester Jugend sind sie ein Paar, sie kennen sich in- und auswendig. Mittlerweile ist ihr Umgang geprägt von Desinteresse und Gemeinheiten. Aber ohne einander geht es irgendwie auch nicht. Das Verhältnis zu den übergriffigen Schwiegereltern ist für Andi ebenfalls schwierig. Wenn sie nun zu Georg ziehen sollte, würden sie alle miteinander unter einem Dach leben...Würde das gut gehen?

Andi kommt, nachdem sie die Schwangerschaft entdeckt, in keinen rechten Handlungsmodus. Sie denkt viel über ihre Beziehung nach, über ihre Schwiegereltern und über all die Dinge, die sich verändern werden, wenn sie das Kind bekommt, über all ihre Zweifel sowie ihre eigene Geschichte. Sie selbst wurde von ihrer Mutter verlassen, als sie 10 Jahre alt war. Sie wuchs bei ihrem Vater auf und hat irgendwann den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sie vertraut sich selbst nicht, vertraut nicht darauf, dass sie das Kind lieben kann, dass sie (es) nicht aufgeben wird.

In ihrer Beziehung zu Georg schwankt sie zwischen Angst vor Nähe und Verbindlichkeit und der Angst vor Verlust und Einsamkeit. Sie sitzt gefühlt in einer Falle und kann den Konflikt nicht lösen.

Georg und sie haben ganz unterschiedliche Ziele. Er möchte Kinder, Haus, Familie. Sie nicht unbedingt. Was möchte sie denn eigentlich? Das weiss sie auch nur so ungefähr.

Tag für Tag entgleiten ihr die Dinge etwas mehr, wie im Traum, sie will die Dinge nicht wahrhaben, sie kann nicht Stopp sagen, "mit jedem Ja rutsche ich weiter in die Scheiße hinein." und in die Depression, das "schwarze Loch" und keiner merkt es. Hin und wieder raucht sie sogar und nippt am Sekt. Gleichzeitig erfährt man Monat für Monat, wie der Embryo sich entwickelt.

Wir folgen Andis innerem Monolog die gesamte Schwangerschaft, ausgehend von der Zeugung bis zur Geburt. Man ist daher ihren Gedanken und Gefühlen sehr nah, die echt, realistisch und schlüssig dargestellt werden. Ich konnte ihre Ablehnung und Zerrissenheit, ihre Wut und ihr Unglücklichsein sehr gut nachempfinden. Ihre fehlende Bereitschaft wirklich ehrlich mit sich zu sein und die Vermeidung wichtige innere Baustellen zu bearbeiten, konnte ich jedoch nicht in Gänze nachvollziehen bzw. gutheißen.

Das komplexe Portrait dieser Frau mit ihren Rissen in der Biographie und dem fehlenden Vertrauen in das Konstrukt "Familie" sowie der fehlenden Priorisierung des "Mutter- Seins", hat mir sehr gut gefallen, mich bewegt und bot Identifikationspotential. Nicht zuletzt auch deswegen, weil auch die schwierigen Seiten einer Mutterschaft beleuchtet werden, die oftmal nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden (wie z.B. Einsamkeit, Verlust bzw. Veränderungen des Arbeitsplatzes etc.). Gefehlt hat mir nur das Thema Schwangerschaftsabbruch. Die Gedanken darüber, das Abwägen hätte unbedingt mithineingehört.

Insgesamt würde ich tatsächlich gern wissen wollen, wie es mit Andi weiter geht..:)

Fazit: Ein runder, eindrücklicher und gefühlvoller, durchaus melancholischer Roman über den Schwangerschaftsverlauf einer Frau, die dem Kinder- Bekommen ambivalent gegenüber steht.