Rezension

Rundum gelungenes Debüt

Zu nah - Olivia Kiernan

Zu nah
von Olivia Kiernan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Olivia Kiernan legt mit “Zu nah” ein beeindruckendes Debüt vor: intelligent und komplex geschrieben, mit großartigen Wendungen, die alles verändern. Sogar die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen zunehmend, so dass sich zur Jagd nach dem Mörder die dringliche Frage nach Schuld und persönlicher Verantwortung gesellt.  
Wer zieht hinter den Kulissen wirklich die Fäden?

Die Handlung ist vielschichtig. Der Maler Chagall spielt ebenso eine Rolle wie BDSM, Gift, das Darknet, Snuff¹… Dazu kommt ein alter Fall, bei dem Ermittlerin Frankie Sheehan fast getötet worden wäre. Schon bald vermutet sie, das es zwischen diesem und dem aktuellen Fall einen Zusammenhang gibt.

Das Tempo ist von Anfang an rasant, der Spannungsbogen hoch, doch die Autorin schraubt ihn immer weiter hoch.

Ein zweites Opfer wird gefunden und die Presse ist entzückt: nur noch einen Mord entfernt vom Serienmörder! Dieses zweite Opfer führt Frankie zurück in die Heimat, zu Menschen, die sie schon seit ihrer Kindheit kennt. Es widerstrebt ihr, ihnen zu misstrauen und sie als mögliche Täter anzusehen, aber die Beweise zwingen sie, es zumindest in Betracht zu ziehen.

Zum fulminanten Finale bleiben Frankie schließlich nur noch 24 Stunden. 24 Stunden, um den Schuldigen zu stellen und den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen.

Die Autorin verwebt die einzelnen Hinweise und Handlungsstränge geschickt, bis hin zu einer schlüssigen Auflösung.

Im Laufe des Buches begegnet der Leser vielen Menschen, wovon einige einen Grund haben, der Polizei gegenüber nicht aufrichtig zu sein. Hier gibt es kein Schwarz oder Weiß; die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld sind fließend. Die Charaktere werden vielschichtig beschrieben und verfallen meines Erachtens nie in Klischees.

Der erste Opfer, Eleanor Costello, ist dafür das beste Beispiel. Auf den ersten Blick ist sie die perfekte Ehefrau, mit einer tadellosen Karriere und einem blütenweißen Leumund. Je mehr Frankie jedoch an dieser schönen Fassade kratzt, desto mehr Risse zeigen sich.

Frankie selber ist ein authentischer Charakter mit Ecken und Kanten.
Sie ist hochintelligent, ihr intuitives Gespür kommt ihr bei den Ermittlungen oft zugute. Sie sieht über das Offensichtliche hinaus, denkt auch mal um die Ecke. Anderen Menschen gegenüber kann sie jedoch sehr schroff sein, sogar ihrem eigenen Team gegenüber. Als sie zum Beispiel nach ihren schweren Verletzungen im letzten Fall zur Arbeit zurückkehrt und feststellt, dass ihr Team Kuchen gebacken und Partyhütchen mitgebracht hat, ist sie keineswegs gerührt:

Zitat:
»Inspector, sie sollten mich allmählich besser kennen. Ich dulde keine Mitleidspartys für meine Mitarbeiter und erst recht nicht für mich selbst. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Die Sprache ist klar und direkt, aber dennoch ausdrucksstark und voller Atmosphäre. Der Tonfall gibt dem Leser ein sehr gutes Gespür für Frankies Persönlichkeit.

Zitat:
‘Eine Wolke Zigarettenqualm schwebt kurz vor mir, zieht dann hinaus in die tobende Nacht. Der Wind hebt mir die Haare aus der Stirn, jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich verschränke die Arme. Mein Spiegelbild schneidet im Fenster vor mir Grimassen, und der Innenraum meiner Wohnung ragt hinaus in die Dunkelheit.’

¹ Snuff: Filme von echten Morden

FAZIT
Die renommierte Wissenschaftlerin Eleanor Costello wird erhängt aufgefunden, scheinbar ein klarer Suizid. Ermittlerin Frankie Sheehan fällt jedoch ein scheinbar unbedeutendes Detail auf, das ihr sagt: Eleanor war nicht alleine, als sie starb. Die Ermittlungen führen ins Darknet, aber auch so gegensätzliche Dinge wie häuslische Gewalt und die Farbe Preußischblau spielen eine Rolle in diesem vielschichtigen Fall.

“Zu nah” ist ein gelungenes Debüt. Die Spannung baut sich schnell auf, die Autorin verwebt die verschiedenen Handlungsstränge und Ermittlungsansätze gekonnt. Die Geschichte ist originell und unverbraucht, und Frankie kann als Protagonistin mit starker Persönlichkeit punkten.