Rezension

Russlands Zwangsarbeitslager

Der Himmel auf ihren Schultern - Sergej Lebedew

Der Himmel auf ihren Schultern
von Sergej Lebedew

Bewertet mit 5 Sternen

Wie Sergej Lebedew arbeitet auch sein Icherzähler als Geologe. Im Norden Russlands haben stets Häftlinge aus Arbeitslagern für die Geologen gearbeitet und hier gibt der Permafrostboden immer wieder Zeugnisse ehemaliger Arbeitslager frei. Überlebende Häftlinge siedelten sich am nördlichen Polarkreis an, die nach 25-jähriger Haft keinen Ort mehr hatten, an den sie zurückkehren konnten. Eine sehr persönliche Erinnerung verbinden den Erzähler, der als Kind ein Wörtersammler war, und die unwirtliche Region. Als seine Eltern ein Ferienhaus auf dem Land kauften, erhielt die Familie zusammen mit der Datscha einen Nenngroßvater für den kleinen Sohn - den blinden Nachbarn. Seine leiblichen Großväter hat der Junge nie kennengelernt. Aus dem Auftrag, den blinden alten Mann zu begleiten und rücksichtsvoll zu behandeln, entwickelt sich eine enge Beziehung. Beim Pilzesuchen oder Angeln nimmt der Junge den alten Mann nicht als blind wahr. Missgeschicke lassen sich öfter auf die Unordentlichkeit anderer zurückführen als auf die Behinderung des Nenngroßvaters. Zur Zeit seiner Einschulung erlebt der Junge den "zweiten Großvater" als Mann mit großer Macht über Menschen und Dinge, der laut Erzählungen der Erwachsenen schon vor dessen Geburt Einfluss auf das Schicksal des Jungen nahm. Das magische Denken des Erstklässlers, der nur ungern die Macht über seine Haare und Fingernägel an Erwachsene abgeben will, entwickelt sich im Laufe der Beziehung zu sorgfältigem Beobachten und Schlussfolgern. Für das Kind noch unverständliche Andeutungen des alten Mannes drehen sich um Kälte, Krieg und Moskitos. Im Vergleich mit auffälligeren Kriegsverletzungen anderer Männer empfinden einige die Blindheit des zweiten Großvaters als "saubere" Folge eines inzwischen fernen Krieges. Hinter seiner Blindheit verbirgt der alte Mann seine Erinnerungen, begreift der Junge, aber einen Blinden fragt man besser nicht nach seiner Vergangenheit. Früh drängt sich ihm der Gedanke auf, jemand, der seine Vergangenheit so sorgsam verschliesst, müsse krank sein. Nach dem Tod des Großvaters erscheinen Unbekannte, die seine Orden und Auszeichnungen davontragen. Wie schon in der Vergangenheit wird auch zukünftig nicht mehr über die Ehrungen gesprochen werden. Wie ein Propfreis an einem Baum fühlt sich der Junge, der dem alten Mann in mehrerlei Hinsicht sein Leben verdankt. Die Vorgeschichte seines zweiten Großvaters wird sich in der Vorstellung des Erzählers erst zwanzig Jahre später vor der Landschaft des hohen Nordens in ein Bild einfügen lassen, als er sich auf die Spur eines Briefschreibers begibt. Der alte Mann war im Norden Russlands Kommandant eines Arbeitslagers. Auf seiner Recherche-Reise sieht der Geologe hinter jedem Gebäude eine Lagerbaracke; nimmt jahrzehntealte Schichten von Stacheldraht wie Jahresringe des Gulag-Systems wahr. Den Spuren einer Gruppe von Häftlingen, an denen der Großvater sich schuldig gemacht hat, folgt der Geologe an die äußerste Grenze des Kontinents bis ins eisige Niemandsland.

Allein schon die ungewöhnliche Beziehung zwischen dem erblindeten Nenngroßvater und seinem jugendlichen Begleiter lohnt die Lektüre dieses Romans. Die tiefergehende Interpretation des Erlebten durch den heute Erwachsenen entwickelt sich nahtlos und absolut glaubwürdig. Obwohl niemand dem Kind von Arbeitslagern erzählt hatte, sind dem Geologen die Lager bewusst, deren Überreste die Natur sich inzwischen zurückgeholt hat. Die Gegenwärtigkeit von Lagerhaft im nationalen Unterbewusstseins Russlands vermittelt der erst 1981 geborene Autor sprachlich ebenso beeindruckend wie die Suche nach persönlicher Schuld in diesem Lagersystem. Die Überlappung unbewusster Erinnerungen eines Kindes mit realen Spuren von Zwangsarbeitslagern im nördlichen Russland haben mich noch lange nach der Lektüre beschäftigt.