Sad Girl Literature auf Deutsch
Bewertet mit 4.5 Sternen
Es ist schwierig schwierige Rezensionen über schwierige Bücher zu schreiben.
Hier kommt mein Versuch.
Inhalt:
Lio lernt Max über Tinder kennen und er wird zum ersten Mann in ihrem Leben, mit dem sie körperliche Nähe zulassen kann. Traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend haben sie geprägt und beeinflussen ihre mentale Gesundheit bis in die Gegenwart. Auch Max hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Nach zwei Jahren Beziehung wird Lio unerwartet schwanger. Sie ist sich sicher, dass sie das Kind nicht bekommen möchte.
Meine Meinung:
Wir befinden uns im Post-Sally-Rooney-Zeitalter. (Es tut mir leid, dass ich diesen Namen schon wieder nutze.) Aber Rooney hat es irgendwie geschafft im englischen Sprachraum den Grundstein für ein neues Genre zu legen. In den Weiten von Bookstagram wird die Form von Literatur, auf die ich mich hier beziehe, als "Sad Girl Literature" oder auch "Hot Girl Literature" bezeichnet. "Basically"geht es um junge Frauen in ihren Zwanzigern, die mit ihrer mentalen Gesundheit ringen, oft eine problematische Vergangenheiten hatten, und natürlich geht es um die Liebe in einer modernen Welt. Es ist alles ein bisschen Großstadt, alles ein bisschen Hipster, alles ein bisschen traurig, manches auch ein bisschen provokant. Ich bin ein großer Fan.
Als ich das Cover von "Liebewesen" zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich "Das ist ja Sad Girl Literature aus Deutschland, das muss ich lesen!"
Jetzt, wo ich es gelesen habe, kann ich sagen: Ich bin sehr froh darum!
In einer kurzen und gleichzeitig einprägsamen Geschichte erzählt Caroline Schmitt vom Schicksal einer jungen Frau, eines Mannes und ihrer Beziehung. Dass die Protagonistin im Laufe der Geschichte schwanger wird und diese Schwangerschaft nicht austragen will, ist nur ein Aspekt der Handlung. Für mich geht es viel mehr um zwei Menschen, die noch jung sind, aber auch nicht mehr so jung, dass sie nicht richtig erwachsen wären, die zusammengefunden haben und versuchen zusammenzubleiben, trotz allem. Sehr relevant für die Entstehung und das Fortbestehen ihrer Beziehung ist die Provinzkindheit der Protagonistin, die von einem traumatisierenden Mutter-Tochter-Verhältnis überschattet wird. In mehreren Kapiteln wird die Haupthandlung unterbrochen und rückblendenartig aus dieser Kindheit erzählt. Das ist nicht leicht auszuhalten, wird aber besser, weil die Autorin es schafft, Lios Geschichte so humorvoll, bissig, fast ein wenig ironisch zu schildern. Dieser Schreibstil ist für mich das Größte an "Liebewesen". Die einzelnen Kapitel sind kurz und sprechen für sich. Viele davon lesen sich "Auf die Zwölf", wie dreiseitige Faustschläge. Das finde ich einerseits super, andererseits führen die einhergehenden Zeitsprünge dazu, dass ich als Leserin manchmal das Gefühl habe, irgendetwas verpasst zu haben. Das Buch hat seine eigenen Sternstunden. Bestimmte Szenen und Dialoge, die auch nach dem Lesen bei mir geblieben sind, weil sie so einprägsam sind. Es gibt aber auch Momente, in denen mir die Handlung und (Neben-)Charaktere etwas klischeebeladen und wächsern vorkommen. Vor allem bei Max hat mir noch eine weitere Ebene seiner Person gefehlt.
Die Bearbeitung des Themas "Abtreibung", wie sie von Caroline Schmitt in "Liebewesen" vorgenommen wird, finde ich mutig und konsequent. Ich könnte mir vorstellen, dass sich Leser*innen dadurch provoziert fühlen werden - in verschiedene Richtungen. Mir jedenfalls hat es besonders gut gefallen. Ich glaube, dass gerade Perspektiven wie Lios erzählt werden sollten, weil und obwohl sie schmerzhaft sind und das ist hier facettenreich gelungen.
Fazit:
4,5 Sterne für "Liebewesen" im Gesamten, 5 Sterne für den Mut und 5 Sterne für das Cover. Wenn das so ist, dann bitte mehr Sad Girl Literature aus Deutschland, gerne auch mit Herbert Grönemeyer Insidern.