Rezension

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"Schauder der unauflöslichen Ambivalenz"

Der Vogelgott
von Susanne Röckel

Von der Autorin Susanne Röckel hatte ich noch nichts gehört. Und so hätte ich wohl kaum zu ihrem neuesten Werk gegriffen, wenn es nicht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2018 gelandet wäre und es sogar auf die shortlist geschafft hätte. Und nun freue ich mich, dass ich wieder eine Entdeckung gemacht habe!

Zur Handlung des Buches: Der Prolog besteht aus einem (fiktiven) Manuskriptauszug. Konrad Weyde, ein Hobbyornithologe, entdeckt in einem düsteren Tal eine unbekannte Vogelart. Es ist ein majestätischer Geier, den er unbedingt fangen, töten und präparieren möchte, trotz der eindringlichen Warnung eines der Dorfbewohner. Die darauf folgenden drei Teile spielen Jahre später, Erzähler sind Konrads drei erwachsene Kinder. Im ersten Teil berichtet der jüngste Sohn Thedor, der sich ziellos durch das Leben treiben lässt und von einem Unbekannten für ein Jahr in ein Entwicklungsland verpflichtet wird. Dort erfährt er von einem archaischen Kult um einen Vogelgott, der Kinderopfer fordert. Die Tochter Dora, Kunstwissenschaftlerin und Malerin, ist fasziniert von einem Maler aus dem Dreißigjährigen Krieg, der bedrohliche geflügelte Wesen dargestellt hat - sind es gefallene Engel? Der älteste Sohn Lorenz recherchiert als Journalist die Albträume von Kindern, die sich davor fürchten, was sich aus der Luft auf sie herabstürzen kann. 

Die Erlebnisse der drei Geschwister zeigen viele Parallelen. Jeder begegnet einem merkwürdigen Mann, der abstoßend und faszinierend zugleich ist. Gestalt, Bewegungen, Augen und vor allem ein widerlicher Geruch wird bei allen ähnlich geschildert, ihre Namen sind Anagramme. In der Begegnung mit diesem Mann verlieren alle drei für eine kurze Zeit ihre eigene Identität, sie geraten in einen unbegreiflichen Sog. Dieses Motiv des "Sich-Verlierens" kennen sie schon aus ihrer Kinderzeit, in der es ihr Lieblingsspiel war, sich so zu verstecken, dass sie ganz mit der Umwelt verschmolzen und in ihr aufgingen. 

Der Leser kann die Geschichten der Geschwister zusammensetzen und entdeckt unterschiedliche Aspekte des gleichen Themas. Dabei entstehen Brüche und es bleiben viele Fragen offen. Sind alles nur Phantasien, Resultate einer psychischen Krankheit? Gibt es tatsächlich einen archaischen Kult? Oder handelt es sich um eine weltumspannende Verschwörung, der wir alle zum Opfer fallen werden, weil wir die Existenz übernatürlicher Kräfte leugnen? Die Autorin gibt keine Erklärungen ab.

Solche phantastischen Konstrukte lese ich nur gern, wenn sie auf einer überzeugenden Grundlage beruhen und in sich schlüssig sind. Hier bleibt vieles offen; das stört mich, die ich gern ein logisches Gesamtbild entdecke. Dennoch: Es gibt keine direkten Widersprüche, es bleibt nur vieles ungeklärt - und das ist eine Herausforderung an den Leser, sich sein eigenes Bild zu machen und zu ergänzen. In einer (fiktiven) Abhandlung über den (fiktiven) Maler wird die Wirkung als "Schauder der unauflösbaren Ambivalenz" bezeichnet. Mich hat es dazu gebracht, immer wieder nach Zusammenhängen zu suchen. Denn: Die Lektüre war faszinierend! Susanne Röckel hat einen Sprachstil, der fesselt und mitreißt. Das Düstere, Unheimliche, Unerklärliche erinnert an Poe oder Kafka. Und so bin auch ich in ihren Sog geraten. Gut, dass es die Anziehung durch eine Schriftstellerin ist und nicht durch einen Vogelgott!