Rezension

Schmerzhaft ehrliche Einblicke

Was nie geschehen ist - Nadja Spiegelman

Was nie geschehen ist
von Nadja Spiegelman

Bewertet mit 4 Sternen

„Es gibt keine objektive Realität. Jedes Erzählen ist auch Fiktion.“ (S. 108)

In „Was nie geschehen ist“ erzählt Nadja Spiegelman ihre eigene Lebensgeschichte und, damit eng verwoben, die ihrer Mutter, ihrer Groß- und ihrer Urgroßmutter. Dabei stellt sich heraus, dass Erinnerungen nichts objektives sind und jeder der Menschen, die eine Geschichte erzählen, sie ein kleines bisschen anders erzählen.

„Ich versuchte mir vor Augen zu führen, dass jeder von uns ein Recht auf seine eigene Version der Vergangenheit hatte.“ (S. 39)

Selten hatte ich nach der Lektüre eines Buches mehr das Gefühl, dass der Titel perfekt passt: Verknüpft mit den Lebensgeschichten, die wir als Leser in „Was nie geschehen ist“ kennenlernen, wird nämlich sehr deutlich, dass die eine Lebensgeschichte nicht existiert. Wesentliche Erlebnisse im Leben aller vorkommenden Frauen weisen in der Erinnerung gravierende Unterschiede auf und das scheint für alle Beteiligten immer wieder ziemlich schmerzhaft zu sein – nachvollziehbarer Weise.
Einzusehen, dass sich etwas, das mich furchtbar verletzt hat, für jemand anderen völlig anders darstellt, ist ziemlich ernüchternd und sorgt dafür, dass ich nicht gewinnen kann: Der andere wird sich nicht schuldig fühlen, wird die Fehler, die er meiner Ansicht nach gemacht hat, nicht einsehen, weil er einfach eine andere Version der Situation hat.
Das ist vielleicht keine überraschende Erkenntnis, aber wohl das erste Mal, dass ein Buch mir das auf diese Weise vor Augen geführt hat, und auf jeden Fall das erste Mal, dass ich mich dabei den Protagonisten so nah gefühlt habe – obwohl ich vorher gesagt hätte, dass meine familiären Beziehungen keines der Probleme hat, die hier geschildert werden.

Bei einer (Auto-)Biografie über die Glaubwürdigkeit der Protagonisten zu reden, ist immer ein bisschen schwierig. Was aber auf jeden Fall die Erwähnung wert ist: Wie nachvollziehbar und ehrlich das Bild ist, das Spiegelman von den Frauen zeichnet, die ihr so häufig so wehgetan haben. Es wäre ein leichtes gewesen, die Geschichten so zu erzählen, dass die Autorin selbst am Ende gut dasteht. Stattdessen beleuchtet sie die Geschichte aus mehreren Blickwinkeln und scheut sich nicht, Widersprüche stehen zu lassen.

Für mich lag der Fokus bei diesem Buch darauf, dass Vergangenheit, Geschichte und Erinnerung niemals objektiv ist. Darüber darf man nicht vergessen, dass auch die Geschehnisse selbst spannend und teils erschütternd sind, sodass es niemals langweilig wird. Und auch wenn mir am Ende das letzte Fünkchen zur Begeisterung fehlte, so finde ich „Was nie geschehen ist“ dennoch ziemlich lesenswert.