Rezension

Schmutzige Geheimnisse

Lieblingskind - C. J. Tudor

Lieblingskind
von C. J. Tudor

Bewertet mit 4 Sternen

Mitten in der Nacht verschwand Annie. Anstrengungen der Suchtrupps waren vergeblich. Die Familie befürchtete das Schlimmste. Plötzlich war die 8-Jährige wieder da. Und nur ihrem Bruder Joe fiel auf, wie stark sich das kleine Mädchen verändert hat ... 

„Lieblingskind“ ist ein interessanter, vielschichtiger Mystery-Thriller aus der Feder von C. J. Tudor, der sich ein bisschen an Stephen King anlehnt und mit einem gelungenen Plot überzeugt.

Thematisch geht C. J. Tudor vor allem gesellschaftliche Gefüge an Schulen und in der Kleinstadt an. Sie zeichnet ein exzellentes Bild von Machtverhältnissen und zu welchen Ungerechtigkeiten diese führen.

Das Verschwinden seiner kleinen Schwester Annie ist ein zentrales Ereignis in Joes Vergangenheit, und bildet den Rahmen des gegenwärtigen Geschehens. C.J. Tudor geht diesen Thriller auf zwei Ebenen an.

In der Vergangenheit lernt der Leser den jugendlichen Joe kennen. Er lässt uns kurz an seine erste Zeit mit der kleinen Schwester teilhaben, woraus sich abgöttische Liebe entwickelt, die er als Jugendlicher verbirgt. Denn es ist nicht cool, wenn einem das 8-jährige Schwesterchen am Zipfel hängt. Schon gar nicht, wenn man den intriganten Hurst beeindrucken will.

Ganz langsam nähert man sich dem zentralen Punkt der Story an. Die Zeit vergeht, aufgrund diverser Anspielungen wird es unheimlich, und nach einer langen Wartezeit kehrt man mit Joe in die entscheidende Nacht von 1992 zurück.

In der Gegenwart begibt sich Joe als Lehrer in seine Heimatstadt. Er hat etliche Päckchen zu tragen, und arbeitet gleichzeitig die Vergangenheit auf. Allerdings hat es sein Leben als Erwachsener nicht gut mit ihm gemeint. Alle hauen ihm auf die Finger, niemand sieht ihn gern in der Stadt, und durch sein verschlagenes Wesen hat er gravierende Probleme an der Backe.

Protagonist Joe ist der Autorin herrlich gelungen. C.J. Tudor hat einen Loser zum Helden ihres Thrillers gemacht. Ich liebe es total, wenn die Figuren grauschattiert statt heroisch strahlend erscheinen und so ihre menschlichen Makel haben. Joe ist dem Alkohol zugetan, schlägt gerne um sich und birgt ein erhebliches Suchtpotential. Außerdem legt er sich laufend mit den falschen Leuten an, was ihn im Endeffekt in die Bredouille bringt.

Die Handlung ist komplex aufgebaut. Es herrscht ein dynamischer Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei lässt Joe den Leser oftmals außen vor, woraus unerwartete Wendungen im Geschehen entstehen. Diese Abwechslung hat mir sehr gut gefallen, auch wenn die Story an sich kleinere Mängel hat.

„Aber wer von uns spricht schon über den Tod? Der Tod ist ein schmutziges Geheimnis. Dabei ist er in gewisser Hinsicht der wichtigste Teil des Lebens.“ (S. 328)

Die Reaktionen beziehungsweise Ignoranz von Joes Mutter im Vergangenheits-Teil ist für mich nicht nachvollziehbar. Hier wurde im Sinne des Ablaufs der Handlung vermutlich ein Auge zugedrückt. Außerdem gibt es im Gegenwartsstrang einen Part, der überhaupt nicht notwendig war. Zwar sorgt dieser am Ende für einen sanften Wow-Effekt, hat der Geschichte aber - meiner Ansicht nach - keinen Mehrwert verliehen.

Die Stimmung an sich ist drückend, und das Unheil schwingt untergründig mit. Besonders am Anfang des Romans gibt es reichlich Gänsehaut. Mit zunehmender Seitenzahl lässt dieses Gefühl nach. Die Erzählweise arbeitet sich vom fesselnden Mystery- eher zum spannenden Crime-Thriller durch. 

Alles in allem habe ich „Lieblingskind“ gerne gelesen. Der Gegenwartsstrang ist eine Spur zu überladen, der Vergangenheit fehlt’s an Gruselatmosphäre. Trotzdem habe ich mich sehr gut unterhalten gefühlt.