Rezension

Schockierend und berührend

Der Märchenerzähler - Antonia Michaelis

Der Märchenerzähler
von Antonia Michaelis

Bewertet mit 5 Sternen

Nicht für Kinder/Jugendliche unter 16 geeignet

Zum Inhalt:

Anna ist 17, behütetes Einzelkind, spielt Querflöte und bereitet sich auf das Abitur vor. Sie passt so gar nicht zu Abel Tannatek, dem „polnischen Kurzwarenhändler“, der immer abseits steht und im Schulhof Drogen verkauft.

Durch Zufall erfährt Anna, dass Tannatek eine kleine Schwester hat und heimlich lauscht sie in der Cafeteria dem Märchen, das er ihr erzählt. Die Neugier treibt Anna immer öfter in seine Nähe. Obwohl Abel anfangs sehr abweisend auf sie reagiert, gibt sie nicht auf; Unterstützung erhält sie auch von seiner kleinen Schwester Micha, die sich über Anna´s Besuche freut.

Anna´s  Gefühle für Abel werden immer stärker, sie spürt, dass hinter Abel´s Maske aus Stolz und Pflichtgefühl etwas sehr verletzliches steckt. Sie lässt sogar ihre treue Schulfreundin Gitta links liegen und gerät immer mehr in den Sog des Märchens, in dem die „kleine Klippenkönigin“ vor Gefahren flüchten muss. Die „kleine Klippenkönigin“ ist Micha, Abel´s kleine Schwester und in den Märchen warnt er vor den bösen Verfolgern, die ihr Herz stehlen wollen. Denn das Leben der beiden Geschwister ist alles andere als leicht. Sie leben im Plattenbau, haben kaum Geld und die Mutter ist schon seit einiger Zeit „verreist“.

Anna erkennt, dass Abel schon seit längerem neben der Schule allein für Micha sorgen muss und Angst hat, dass neugierige Nachbarn, Micha´s Vater oder das Jugendamt Wind davon bekommt und ihm seine kleine Schwester wegnehmen könnte.  Nach und nach lässt er Anna´s Nähe zu, doch das Schicksal meint es hart. Als plötzlich tatsächlich Micha´s Vater auftaucht nimmt das Verhängnis seinen Lauf – und Anna weiß bald nicht mehr, wem sie trauen kann.

Zum Schreibstil:

Wieder wunderbar geschrieben. In die Handlung wird immer wieder das Märchen eingebunden, das Abel erzählt. Das Märchen ist eine kindliche Umschreibung dessen, was real passiert; in der auch Hinweise zu finden sind, die einem aber bis zum Schluss nicht verraten, was wirklich hinter den Fassaden der Protagonisten steckt.

Die Charaktere:

Sind allesamt gut beschrieben. Für mich ist die Handlungsweise von Abel und Anna durchaus nachvollziehbar (obwohl ich dazu schon anderes gelesen hab). Viele Menschen handeln nicht – ich nenn´s mal sinnvoll - was nicht heißt, dass es unglaubwürdig ist.

Wie Anna gegen Ende mit dem „Vorfall“ umgeht (ich will nicht spoilern), ist auf keinen Fall ein Vorzeigemodell, aber sie ist so mit Abel und seinem Leben verstrickt, dass sie gar nicht anders kann. Ich denke, Erwachsene können durchaus mit dieser Thematik umgehen.

Meine Meinung:

Schon im Prolog erkennt man, dass dieses Buch eine dunkle, bedrohliche Saite birgt.

Man wird langsam in diese Welt, in der sich Abel mit seiner kleinen Schwester durchschlagen muss, eingeführt und wird auf viele Missstände gestoßen, die es in unserer heutigen Gesellschaft so nicht mehr geben sollte. Natürlich wird einiges auf die Spitze getrieben (manche prangern hier diese überzogenen Klischees an) aber es ist ein Buch, eine Geschichte, die uns fesseln und berühren soll, und genau das hat sie bei mir getan. Ich habe mit Anna mitgelitten, die aus ihrer „heile Welt Familie“ ausbrechen will und vor allem mit Abel, der mit seinen 17 Jahren schon so viel durchmachen musste. Schlimm besonders deshalb, weil es sicher viele „Abels“ auf die ein oder andere Art in dieser  Welt gibt.

Es gibt viele brutale Aspekte, die teilweise auf leise, berührende Art, teilweise in grausamer Offenheit beschrieben werden, weshalb ich das Buch für Jugendliche nicht geeignet finde. Ich bin prinzipiell nicht dafür, Kinder und Jugendliche nicht in die Gefahren, die überall lauern, einzuweihen, aber ich denke, speziell in diesem Fall fehlt da noch das Verständnis und es werden vielleicht auch Eindrücke aus der Handlung falsch interpretiert.

Fazit:

Die Geschichte ist mir nahgegangen und hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen. Großartig geschrieben, mit einem eindringlichen Thema, das polarisiert.

© Aleshanee