Rezension

Schöne und interessante Geschichte

Weißer Zug nach Süden
von Thommie Bayer

Die junge Italienerin Chiara schlüpft in das Leben ihrer Freundin Leonie und begegnet dabei einem Mann, der ihre Gedanken zu lesen scheint - "Weißer Zug nach Süden" erzählt von dem geborgten Leben einer Frau und ist zugleich ein raffinierter kurzer Roman über die Unergründlichkeit menschlicher Inspiration. Chiara stammt aus Castelnuovo in Italien. Warum sie nach Deutschland gekommen ist, geht niemanden etwas an. Jetzt ist sie da und führt das Leben, das ihre Freundin Leonie ihr hinterlassen hat: Chiara wohnt in Leonies Haus auf dem Hügel und hat auch ihren Job übernommen, sie putzt. Für den Übergang, sagt sie sich, aber dieses Leben gefällt ihr, sie mag es, in fremde Wohnungen zu schauen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Die Wohnung des Herrn Vorden übt dabei eine besondere Anziehung auf sie aus. Und auch Vorden scheint eine tiefere Verbindung zu ihr zu haben - denn jede Woche, wenn Chiara seine Räume betritt, findet sie auf seinem Schreibtisch einen Stapel Blätter mit einer Geschichte. Und jede Woche fragt sie sich, ob der Mann, von dem sie nicht einmal den Vornamen kennt, ihre Gedanken lesen kann. Denn seine Geschichten haben sehr viel mit ihrem Leben zu tun.

Thommie Bayer erzählt eine wunderschöne Geschichte über die junge Italienerin Chiara, die das Leben ihrer Freundin Leonie für eine Zeit übernimmt, weil sie selbst aus Scham ihr Dorf verlassen will, da sie etwas getan hat, was öffentlich gemacht wurde und sie sich dafür entsetzlich schämt, auch vor ihrem Vater und ihrem Bruder. Leonie ist nach New York gegangen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, weil sie sich dort zu Hause fühlt. Dafür hat Chiara ihr Leben in Deutschland übernommen, wohnt in dem Haus ihrer Mutter und hat ihre Putzstellen übernommen. Chiara ist sehr pflichtbewusst, erledigt die ihr auferlegten Arbeiten gut und geht jeden Tag zu den verschiedenen Arbeitgebern, um dort ihre Putzarbeit zu erledigen. Jeden Dienstag ist dafür die Wohnung von Herrn Vorden vorgesehen, in welcher Chiara sich von Anfang an wie zu Hause fühlt. Sie nimmt nach getaner Arbeit ein Bad und findet jede Woche einen neuen Stapel beschriebener Blätter auf seinem Schreibtisch. Eines Dienstags liest sie diese Blätter und fühlt sich mit Herrn Vorden seelisch verbunden. Alles was er beschreibt, betrifft indirekt Chiara oder hat mit ihrem Leben zu tun. Sie ist davon gleichzeitig erschrocken wie entzückt und dieser Mann ist ihr mehr als sympathisch, obwohl er schon älter sein muss. Aber durch dieses Geschichten die er schreibt, wird er ihr immer bekannter und sie kommt ihm dadurch immer näher. Bis Leonie sich wieder meldet.

Dieser Roman hat mir gut gefallen. Obwohl relativ kurz, sagt er so vieles über Chiara und auch Herrn Vorden aus. Die Geschichten, die er schreibt, sind sehr einfühlsam und schön und bringen noch etwas neues Leben mit hinein. Noch dazu, weil sie Chiara einbinden oder ihr privates Umfeld. Ich hätte mir vielleicht noch ein anderes Ende gewünscht, z.B. wie sie wieder in ihr Dorf zurückkehrt oder Herrn Vorden persönlich kennenlernt.

Poetisch, sensibel, bildhaft und fließend schreibt Thommie Bayer diesen schönen Roman, der einen für eine zeitlang mit in Chiara's Leben nimmt und man an ihren Ängsten, Wünschen und Träumen teilhaben darf.