Rezension

Schon seit der Antike: Kein Wirtschaftswachstum ohne Reformwillen

Konstantinopel - Istanbul - Malte Fuhrmann

Konstantinopel - Istanbul
von Malte Fuhrmann

Bewertet mit 5 Sternen

„Brot und Spiele“ war in der Antike eine ironische Wertung des Verhältnisses zwischen dekadenten Herrschern und deren an Politik desinteressiertem Volk. Als Konstantin der Große das „Neue Rom“ zu seinem Regierungssitz erklärt, hat das strategische und wirtschaftliche Gründe. Die Stadt, die bis 1923 Hauptstadt des osmanischen Reichs sein wird, liegt an einer Kreuzung von Handelswegen und ist damit zur Hafenstadt und zum Standort von Werften und Werkstätten prädestiniert. Durch ihre Lage eingezwängt direkt am Wasser und auf hügeligem Untergrund ist sie jedoch von Beginn an ein schwierig zu bebauendes Pflaster, auf dem eine schnell wachsende Bevölkerung mit Waren und einer funktionierenden Infrastruktur versorgt werden will. „Brot und Spiele“ werden bis in die Gegenwart nur eine von vielen Variablen sein, mit der die Herrschenden jonglieren müssen, damit die Bevölkerung zufrieden und wirtschaftlich erfolgreich leben kann. Die Stadt braucht Soldaten und erfahrene Handwerker aus den unterschiedlichsten Berufen, sie muss Zuwanderer mit einer Vielzahl von Nationalitäten und Religionen unterbringen. Wirtschaftswachstum wird heute ohne Freiheit und Innovationsfreude nicht möglich sein, wie es bereits früher nicht möglich war, das macht Fuhrmann wiederholt an Beispielen deutlich.

In der Vergangenheit waren Herkunft und Muttersprache zentrales Unterscheidungsmerkmal der Bewohner Istanbuls, nicht ihre Religion. Am Osmanischen Hof und in der Dichtung jener Zeit waren noch Persisch und Arabisch die angeseheneren Sprachen. Zum heiklen Gleichgewicht zwischen Arbeit, Wohnen, Infrastruktur, Religion und Nationalität in einer wachsenden Stadt kommen auch in Istanbul die Zyklen von Aufstieg, Stagnation und Niedergang von Dynastien, sowie Konflikte von außen. Außer wirtschaftlichem und kulturellem Mehrwert erwarten Fachkräfte  aus aller Welt von ihren Herrschern Rechtssicherheit, Religionsfreiheit  und die Tolerierung von gesellschaftlichen Veränderungen, die Handel und Handwerk zwangsläufig aus aller Welt in die Stadt tragen. „Brot und Spiele“ zeigt sich hier als Überschrift,  die nicht nur die Geschichte Istanbuls bis in die Gegenwart zusammenhält, sondern im Grunde die Entwicklung jeder Großstadt und jeder Einwanderungsgesellschaft erklären kann.

Malte Fuhrmann will mit seiner umfassenden Stadtgeschichte Istanbuls Bezüge zwischen Personen, Zeiträumen und Faktoren für Veränderungen verdeutlichen. Das darin gezeigte Auf und Ab in Jahrhunderten zwischen Herrschenden und Widerspenstigen, zwischen Leistung, persönlicher Freiheit und Anspruch an einen funktionierenden Staat liest sich in kurzen Kapiteln selbst für historische Laien unkompliziert. Verblüfft hat mich, wie viele Querverbindungen zwischen Familienhaushalt und Staat, Familienoberhaupt und Herrscher herzustellen sind und wie sich Konflikte immer wieder auf einfache menschliche Bedürfnisse zurückführen lassen. Schließlich kann man als Leser verfolgen, wie weit religiöse Toleranz in der Stadt in früheren Zeiten wirklich ging und was nostalgische Überlieferung sein kann, berichtet durch Emigranten. Zum Thema multireligiöse Gesellschaft, Missionsdrang und Überlegenheitsanspruch einzelner Religionen kann ein Blick in die Geschichte von heute aus erhellend sein.  Eindrucksvoll fand ich die Sicht auf die Stadt in eingeschobenen persönlichen Briefen und Aufzeichnungen, die Geschichte von unten erzählen und den Blick immer wieder auf den Alltag der arbeitenden Bevölkerung richten.  

Nach der Lektüre führt für mich der Bogen der Geschichte in der unmittelbaren Gegenwart wieder auf das „Brot und Spiele“ der Antike zurück. Mit heutigem Wissen sollte es abgewandelt heißen: Kein Wirtschaftswachstum ohne Zuwanderung und ohne Reformwillen.