Rezension

Schonunglos

Splitterfasernackt - Lilly Lindner

Splitterfasernackt
von Lilly Lindner

Schon nach den ersten Seiten, überlegte ich das Buch wieder zur Seite zu legen. Ich kam mir vor wie ein Voyeur, dem es ein heimliches Vergnügen bereitet, durch das Schlüsselloch auf die verletzte Seele eines missbrauchten Kindes zu blicken. Wollte ich wirklich die detaillierte Beschreibung der Vergewaltigung eines sechsjährigen Mädchens lesen? Ich stand auf und ging eine Weile umher. Kurz darauf zog mich das Buch auf meinem Nachttisch aber wieder wie magisch an. Obwohl ich schon jetzt sehr aufgewühlt war, wollte ich doch wissen, wie es weitergeht. Irgendwie keimte da in mir auch noch ein bisschen Hoffnung. Hoffnung darauf, dass am Ende das Gute doch wieder über das Böse siegt und ich die Möglichkeit haben werde, mit dem Buch meinen Frieden zu schließen. Also las ich weiter. Jeder Satz, den ich nun las, schien mir wie ein Schlag und doch folgte ich der Autorin weiter in ihrem Kampf gegen sich selbst. Kurz und prägnant waren die Sätze von Lilly Lindner und doch so ausdrucksstark und lebenserfahren, dass ich kaum glauben konnte, dass diese Frau noch nicht einmal dreißig ist. Nach einigen Kapiteln musste ich wieder eine Pause einlegen. Wut packte mich. Ich wollte verzweifelt schreien, warum denn bloß niemand merkt, was diese junge Frau durchleidet. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich vielleicht selbst, wissentlich oder unwissentlich zu diesen Ignoranten gehöre. Bei den nun folgenden Passagen überkam mich Übelkeit, kurz darauf Entsetzen. Es gab kein Entkommen. Ein grausames Detail jagte das Nächste. Was folgte war eine schlaflose Nacht mit dem Erstlingswerk von Lilly Lindner, in der mich das Schicksal der Autorin nicht mehr losgelassen hat, bis ich die letzte Seite umgeblättert hatte.

 

„Splitterfasernackt“ war für mich vor allem ein schonungslos offenes und ehrliches Buch. Es nimmt keine Rücksicht auf den Leser und ist sicher nichts für zartbesaitete Leute, da die Autorin die Dinge eindeutig beim Namen nennt. Als Lesevergnügen würde ich die knapp 400 Seiten schon aus Respekt gegenüber der Autorin und ihren Erfahrungen nicht bezeichnen, vielmehr bewundere ich eine Frau wie Lilly Lindner, die stellvertretend für viele Mädchen und Frauen den Mut hatte, das Schweigen zu brechen.