Rezension

Schonungsloses, wichtiges Mahnmal

Mercy Seat - Elizabeth H. Winthrop

Mercy Seat
von Elizabeth H. Winthrop

Bewertet mit 5 Sternen

„wenn wir im kindergarten menschen mit dunkler haut malten, nahmen uns die erzieherinnen [...] den stift aus der hand, und sie nahmen einen hellrosanen aus der buntstiftdose [...] diese farbe nenne man hautfarbe.“ (aus „Vor der Zunahme der Zeichen, S. 94)

Elizabeth H. Winthrop ist ein zutiefst erschütterndes, mutiges Buch gelungen, das aufgrund der gegenwärtigen Zunahme rechtsextremer und rassistischer Bewegungen nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Vor noch nicht einmal hundert Jahren bestimmte die Hautfarbe über Leben und Tod - nicht der eigentlich Tatbestand oder die Beweise -, denn vor Gericht galten andere Gesetze für weiße und schwarze Bürger. Vor diesem Hintergrund wirkt „Mercy Seat“ wie ein Mahnmal für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Lassen wir es nie wieder so weit kommen.

Ein drückend heißer Sommer liegt über dem Bundesstaat Louisiana im Jahr 1943. Drückend auch die Stimmung in der kleinen Stadt St. Martinsville, denn in nur wenigen Stunden soll ein junger, schwarzer Mann auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Schuldig gesprochen wurde Will für ein schlimmes Verbrechen, das er jedoch nicht begangen hat: die Vergewaltigung eines weißen Mädchens. Grace war seine Geliebte, doch eine Aussage zugunsten des Geliebten ist durch ihren verzweifelten Freitod nicht mehr möglich. Unruhig wartet Will in seiner Zelle auf die Vollstreckung seines Urteils um Mitternacht und ahnt nicht, dass seine letzten Stunden auch das Leben vieler weiterer Personen beeinflussen...

Ganz ehrlich, die Lektüre dieses Romans ging mir durch Mark und Bein und noch jetzt muss ich heftig schlucken, wenn ich daran zurückdenke. Es ist ein schonungsloses, emotionales Kammerspiel, das Winthrop auf nur 250 Seiten erschaffen hat. Mit jeder Seite, die man liest, wird man tiefer in diese bedrohliche Atmosphäre hineingezogen; mit jeder Seite, die man umblättert, tickt der Sekundenzeiger schneller und Wills verbliebene Zeit verstreicht. Je weiter ich mich in der Geschichte auf Mitternacht zubewegte, desto öfter hatte ich Tränen in den Augen, die ich irgendwann einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Dabei ist der Erzählstil alles andere als emotional, sondern vielmehr beobachtend, beschreibend. Doch genau diese klare Sprache schafft Ehrlichkeit, Mitgefühl und klagt an. Winthrop erzählt die Geschichte multiperspektivisch und eröffnet dem Leser damit ein Kaleidoskop an Personen und Schicksalen. Was anfangs etwas verwirrt, faszinierte mich von Kapitel zu Kapitel mehr, denn die verschiedenen Erzählstränge verweben sich ineinander und verdichten sich zu einem intensiven Bild der damaligen Gesellschaft, die von Hass, Rassismus und Gewalt geprägt war. Und doch ist unterschwellig schon etwas von der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre zu spüren: leise, kritische Stimmen, die diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten nicht (mehr) hinnehmen wollen.

 

„Mercy Seat“ ist kein einfaches Buch. Es ist grausam und fordernd. Aber es führt uns vor Augen, was wir schon erreicht haben und wofür es sich weiter zu kämpfen lohnt. Weil unterbewusster, versteckter Rassismus uns tagtäglich begegnet. Weil offener Hass und Fremdenfeindlichkeit Themen sind, die jeden etwas angehen. Und weil wir noch lange nicht fertig sind.