Rezension

Schuld und Sühne oder die Leiden des Etan Grien

Löwen wecken - Ayelet Gundar-Goshen

Löwen wecken
von Ayelet Gundar-Goshen

Einundvierzig Jahre gegenüber einer Minute, und doch hatte er das Gefühl, diese eine Minute enthalte viel mehr als sechzig Sekunden, so wie ein DNA-Molekül den ganzen Menschen in sich barg. Und ja, es machte etwas aus, dass es ein Eritreer war. Denn die sahen ihm alle gleich aus. Weil er sie nicht kannte. Weil Menschen von einem anderen Stern notgedrungen etwas weniger menschlich waren. Zugegeben, das klang furchtbar, aber er war nicht der Einzige, der so dachte. Er war nur der, der zufällig einen überfahren hatte.

Inhalt
Der Neurochirurg Etan Grien lebt mit seiner Frau Liat und den zwei kleinen Söhnen in der Wüstenstadt Be'er Scheva. Nach einem anstrengenden Tag in der Klinik, sitzt er in seinem Jeep, stellt das Radio an und fährt mit überhöhter Geschwindigkeit durch die einsame Wüste. Dabei tötet er versehentlich einen illegalen Einwanderer aus Eritrea. Der Mann hinterlässt keinerlei Spuren an dem Wagen und da ihm Dr. Grien auch nicht helfen kann, lässt er den sterbenden am Straßenrand liegen. Am nächsten Tag bekommt er Besuch von einer schönen schwarzen Frau. Ein Besuch, der nicht ohne Folgen bleiben wird.

Meine Meinung
Sie steht vor seiner Tür und sagt: " Sie haben ihre Brieftasche verloren". Dies ist der Satz, der Etan Grien und auch den Leser den Atem anhalten lässt. Denn die Frau, die vor seiner Haustür steht, ist die Ehefrau des Opfers. Für ihr Schweigen soll er den anderen Einwanderern medizinische Hilfe leisten. Etan sieht keinen anderen Ausweg und stimmt diesem Vorschlag zu. Die Nächte verbringt er in einer Werkstatt, die als provisorische Klinik eingesetzt wird und ihn ständig mit seiner Schuld konfrontiert. Etan stößt bald an seine Grenzen, denn seine Arbeit im Krankenhaus leidet darunter und auch seine Frau Liat, die Polizistin ist, schöpft langsam Verdacht. Sie beginnt in dem Fall an dem Mord des Eritreers zu ermitteln und Etan schweigt. Aus Angst, alles zu verlieren, was er liebt. Weil er nicht der wunderbare Mann ist, für den sie ihn gehalten hat.

Fast wider Willen kommen sich Sirkit, die Frau des Opfers, und Etan näher. Zwischen ihnen entsteht eine nahezu unerträgliche Spannung, als beide beginnen übereinander nachzudenken. Sirkit ist einerseits eine starke, wenn auch geschundene Frau aus Eritrea, anhand derer die Autorin auf das Flüchtlingsproblem hinweist. Sie ist zum ersten Mal die Taktgeberin, derer sich Etan zu beugen hat und verändert sich, je mehr sie ihre eigenen Wünsche erkennt.

Ayelet Gundar-Goshen schildert den Alltag der Protagonisten nuancenreich, wenn auch manchmal etwas weitschweifig, was der Spannung jedoch keinen Abbruch tut. Einzig ihre manchmal vulgäre Sprache hat mir weniger gefallen, da sie mich irgendwann einfach nur noch genervt hat. Wie ein Teenager, der cool sein möchte und es leider nicht wird, auch wenn er noch so oft Begriffe aus dem menschlichen Verdauungsapparat wiederholt.

Fazit
"Löwen wecken" ist ein vielschichtiger, intelligenter Roman, der die Frage aufwirft "Was hätte ich in der Situation getan?". Wie die Autorin Antworten darauf findet, ist beeindruckend und sprachgewaltig komponiert. Eine ganz klare Lese-Empfehlung!