Rezension

Schule außer Rand und Band - in England ein Kultbuch

Die Lehren des Schuldirektors George Harpole - J. L. Carr

Die Lehren des Schuldirektors George Harpole
von J. L. Carr

Bewertet mit 4.5 Sternen

George Harpole sollte ein halbes Jahr lang den Direktor seiner Schule während dessen Fortbildung vertreten. Rückblickend sichtet und kommentiert Direktor Chadband in seinem Abschlussbericht, was in seiner Abwesenheit an der St. Nicholas Schule passierte. Aus persönlichen Briefen, schriftlichen Auseinandersetzungen mit der Schulbehörde, Leserbriefen und Kinderaufsätzen entsteht ein lebendiges Bild der Schlangengrube namens Schule. Mister Chadband befindet sich eindeutig in einer einfacheren Position als Harpole auf seinem beruflichen Schleudersitz, weil er dem jungen Kollegen Berufs- und Verwaltungserfahrung voraushat. Über Fehler, die einmal geschehen sind, hat man nachher leicht reden.

Dass der heimliche Direktor einer Schule der Hausmeister ist, damit hatte ich zu Beginn des Buchs gerechnet. Nicht jedoch mit dem durchaus komischen Auftritt einer engagierten Reformpädagogin und ihren Kritikern, die den Zusammenbruch der sozialen Ordnung befürchten. Die Ordnung der britischen Klassengesellschaft wurde allein schon dadurch gefährdet, dass Harpole wie ein jugendlicher Don Quichotte Rohrstock und „Dummen-Klasse“ an der Schule abschaffen will. Selbst das Christentum scheint in Gefahr, als Mrs. Foxberrow im Religionsunterricht die Frage aufwirft, ob Jesus als dunkelhäutiges Mitglied der Arbeiterklasse, das durch seinen Dialekt aufgefallen sein muss, im heutigen England eine Pfarrerstelle gefunden hätte. Ihre anschließende Auflösung gibt ein entlarvendes Bild davon, wie die britische Gesellschaft heute funktioniert. Harpole deckt auch auf, dass bei gleichen Leistungen Mädchen aus der Arbeiterschicht gegenüber Bürgertöchtern schlechtere Übertritts-Chancen auf weiterführende Schulen haben. Ein immer noch heißes Eisen.

J.L. Carr lässt in seiner Milieustudie unfreiwillig komische Kinderaufsätze auf knallharte, nicht weniger komische Auswüchse von Bürokratie prallen. Abgesehen davon, dass ich als Hobbybastler endlich gelernt habe, was ein Rollgabelschlüssel ist, habe ich mich köstlich über die St. Nicholas Schule und ihr Umfeld amüsiert. Die vielen Stimmen im Buch erfordern anfangs etwas Konzentration, dann wundert man sich als Leser nicht mehr, dass „The Harpole Report“ in England zum Kultbuch wurde.