Rezension

Schwere Kost, aber dennoch eine unbedingte Leseempfehlung!

All die gestohlenen Erinnerungen -

All die gestohlenen Erinnerungen
von Gaëlle Nohant

Bewertet mit 5 Sternen

Die (fiktive) Französin Irène Martin lebt schon über zwanzig Jahre in Hessen und arbeitet beinahe ebenso lange in den (realen) Arolsen Archives, die als International Tracing Service (ITS) kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet worden ist, um jenen Menschen, die der NS-Terror verschleppt und ermordet hat, zu gedenken bzw. Überlebenden Auskunft über das Schicksale von deren Verwandte zu geben. Auch Daten zu den Millionen Displaced Persons, die nach dem Krieg in Europa herumirrten, sind hier dokumentiert. Spät, aber doch, gelingt es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen und manchmal können auch Gegenstände dieser Personen, die im Archiv aufbewahrt werden, an Hinterbliebene zurückgegeben werden.

 

Ein solcher Gegenstand, um den es in diesem historischen Roman geht, ist ein abgeliebter Pierrot, der, wie ein Medaillon, Irène bei ihren Recherchen unter anderem bis nach Polen führt. Auf der Suche nach dem früheren Besitzer der Stoffpuppe begegnet sie in den Datenbanken nicht nur Opfern der Shoa, sondern auch Tätern. Dabei muss sie feststellen, dass auch der frühere Leiter des Archivs seinen Anteil an den dunklen Jahren der deutschen Geschichte hat.

 

Wenn nun Hinterbliebene ausfindig gemacht worden sind, oder jene von sich aus die Archive kontaktieren, ist genau abzuwägen, wie ihnen die Ergebnisse der Nachforschungen präsentiert werden sollen.

 

Meine Meinung:

 

Sehr einfühlsam und dabei doch eindrücklich beschreibt Gaëlle Nohant die Arbeit in den Archiven. Für die Menschen wie die fiktive Irène Martin, die dort arbeiten und forschen, ist dies nicht nur Beruf sondern Berufung, denn er gehört schon sehr viel Mut und Liebe dazu, sich mit den Schicksalen jener Menschen, die der Moloch der Nazis verschluckt hat,zu beschäftigen. Genau wie Irène habe ich mich zunächst gewundert, dass einige Datenbanken streng geheim und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Als dann die Rolle des früheren Direktors bekannt wird, ist alles klar.

 

Auf die Frage, warum und wie sie sich auf ihrer Suche den vermissten Personen nähert, antwortet Irène:

 

„Der Instinkt und die Geduld. Ich verbringe wahnsinnig viel Zeit damit, an die Menschen zu denken, die ich suche.

Tag und Nacht. während ich laufe, beim Autofahren. Mein Sohn wirft mir das oft genug vor. Immer sind meine Ermittlungen in einer meiner Gehirnwindungen präsent. Ich folge meinen Intuitionen, ich überprüfe sie, um herauszufinden, ob sie standhalten. Ich versuche die Spuren miteinander zu verbinden, und die meiste Zeit ist das ziemlich beschwerlich. Und dann spüre ich unvermittelt, dass ich eine heiße Spur habe. Das ist dann ein ganz besonderes Brennen.“

 

Und genau dieses Brennen, das Irène spürt, kann man auch beim Lesen erleben. Dieser historische Roman liest sich fesselnd, auch wenn die eine oder andere Schilderung von den Gräueln der NS-Schergen schwer zu verkraften ist. Obwohl ich schon mehrere Meter Bücher zu diesem Thema gelesen habe, erfahre ich doch wieder etwas Neues.

 

Die Erzählweise, jedes Kapitel ist mit wiederkehrenden Namen wie Eva, Wita, Elsie, Teodor, Lazar, Myriam oder Allegra überschrieben, finde ich sehr interessant. Für mich ist jedes Kapitel ein Puzzleteil, das sich ausführlich mit jener Person des Namens beschäftigt. Zusammengesetzt ergeben diese Mosaiksteinchen ein Gesamtbild.

 

Kaum ist eine Frage halbwegs beantwortet, tauchen aus diesen Antworten neue Fragen auf. Wie ein Spinnennetz ergeben sich neue Spuren, die nicht immer zum Ziel führen, sondern auch in diverse Sackgassen oder zunächst unbedeutenden Nebenschauplätzen enden. Hier den Überblick zu bewahren, ist die große Kunst der Mitarbeiter des Arolsen Archives. Eine Schwierigkeit bei dieser Arbeit ist es auch, die noch vorhandenen Quellen richtig in den historischen Kontext einzuordnen. Denn, als klar wird, dass der Krieg verloren ist, wird ja angeordnet, so viele Dokumenten wie möglich, zu vernichten, um keine Beweise über ihre Gräueltaten den Siegermächten zu überlassen. Außerdem habe sich zahlreiche Nazis geschickt ihre eigenen Legenden gebastelt, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden.

 

Ein besonders abstoßendes Kapitel in der ohnehin schon grausamen Geschichte des NS-Staates, bildet die Entführung von blonden, blauäugigen - also arisch aussehenden - Kindern aus den annektierten Gebieten, um sie in Familien überzeugter Nazis aufwachsen zu lassen. Dieses Kapitel der deutschen Geschichte ist noch nicht zur Gänze erforscht. Wie viele von diesen zwangsadoptierten Kindern, die vor allem aus Polen stammen, ist bis heute nicht genau bekannt, da man hier alle Spuren ziemlich gut verwischt hat.

 

Der interessierte Leser kann hier durchaus Parallelen zu den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine entdecken.

 

Fazit:

 

Mit diesem eindrucksvollen historischen Roman hat Gaëlle Nohant die akribische Arbeit der Arolsen Archives vor den Vorhang geholt. Gerne gebe ich diesem Buch eine Leseempfehlung und 5 Sterne!