Rezension

schwermütige Geschichte über die Last der Vergangenheit und die Chance, loslassen zu können - fesselnd und eindrücklich erzählt.

Der Papierpalast
von Miranda Cowley Heller

Bewertet mit 4 Sternen

Elle Bishop ist Anfang 50, verheiratet und Mutter dreier Kinder. Wie jeden Sommer verbringen sie ihre freien Tage im Papierpalast, dem Sommerhaus der Familie in Back Woods auf Cape Cod, wo Elle das Freiheitsgefühl am See genießt. In diesem Sommer ist auch ihre Jugendliebe Jonas mit seiner Ehefrau Gina da, was die beiden jedoch nicht davon abhält, in einem unbeobachteten Moment nach einem gemeinsamen Grillabend mit der ganzen Familie, miteinander zu schlafen. Noch am nächsten Morgen ist eine aufgeladene Spannung vorhanden und Jonas schwört Elle hartnäckig seine Liebe. 
Elle kann jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass Jonas sie eines Sommers verlassen hatte und erinnert sich sodann zurück an ihre Kindheit und Jugend, die Scheidung ihrer Eltern, neue Lebenspartner und ein düsteres Geheimnis, dass sie mit Jonas verbindet und an dem ihre Jugendliebe zerbrach. 

"Der Papierpalast" ist der Ort, wo sich Elle in Jonas verliebt hat, aber auch der Ort, wo ihr Schreckliches widerfahren ist. Gegenüber ihrer Familie konnte sie sich als 15-jähriges Mädchen nicht öffnen und so war es Jonas, dem sie ihr Geheimnis anvertraute. Die Folgen davon waren nicht absehbar und sorgten für ein nachhaltig schlechtes Gewissen. 

Der Roman handelt in der Gegenwart an nur einem Sommertag Anfang August, dem Tag nach dem ersten Sex der ehemals jugendlichen Liebenden. Die Vergangenheit erzählt 30 Jahre im Leben von Elle, von den 1960ern bis in die 1990er-Jahre, auf die sie zurückblickt. Es ist keine leichte Familiengeschichte, denn die Verhältnisse der Familienmitglieder untereinander sind schwierig. Beide Elternteile sind sehr auf sich bezogen und haben wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der beiden Töchter Anna und Elle genommen. Es herrscht wenig Vertrauen und Liebe untereinander, der Ton ist scharf, die Mädchen wechseln zwischen Mutter und Vater, stehen dort jedoch nie an erster Stelle. So merkt auch niemand, welches Spiel Elles Stiefbruder Conrad treibt. Es sind Erlebnisse, die Elles weiteres Leben geprägt haben und die auch für die/ den Leser*in nur schwer verdaulich sind. 
In ihrem beständigen Ehemann Peter, dem eleganten Engländer, findet Elle Halt und gründet ihre eigene Familie. Er weiß nichts von ihrer Vergangenheit, ihrem Geheimnis und ihren dunklen Gedanken.  

So steht Elle mit Anfang 50 vor der Entscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Abenteuer und Beständigkeit, zwischen Freiheit und Familie. 
"Der Papierpalast" ist eine dramatische Geschichte über eine Familie, in der wenig gesprochen wird, in der Problemen ausgewichen wird und Dinge unter den Teppich gekehrt werden. Durch Rückblenden in die Vergangenheit, die chronologisch erzählt wird, wird ein Geheimnis offenbart, das eine Erklärung für Elles schamloses Verhalten in der Gegenwart liefert und das sie nach all den Jahren der Verdrängung vor die Wahl stellt und eine Entscheidung erzwingt. 
Die Geschichte zeigt, wie viele Jahre ungelöste Konflikte und unverarbeitete Traumata schwelen und die Gegenwart beeinflussen können. Es stellen sich Fragen nach Verantwortung und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne. 
Der Roman ist eindringlich, stellenweise brutal und wird mir dabei phasenweise zu nüchtern erzählt. Zudem empfand ich den Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit oft zu sprunghaft und ich konnte mich auf beiden Zeitebenen nur schwer in Elle oder ihre Mutter Wallace hineinversetzen und ihr Handeln nachvollziehen. Die Geschichte fesselt durch den lebendigen Schreibstil und die direkten Dialoge und markigen Lebensweisheiten von Mutter Wallace, jedoch fand ich nicht ganz schlüssig, warum sich Elle ausgerechnet in diesem Sommer im Papierpalast ihren Dämonen der Vergangenheit stellt.