Rezension

Sehnsucht nach dem Vater

Es blieb mir nur die Hoffnung - Lidia Czyz

Es blieb mir nur die Hoffnung
von Lidia Czyz

Bewertet mit 4 Sternen

Das Buch erzählt die wahre Geschichte von Nadia, die mit fünf Jahren von ihrem polnischen Vater getrennt und von der Mutter mit in die Tschechoslowakei genommen wird. Dass sich das Mädchen nach wie vor nach seinem Vater sehnt und sich nicht in die neuen Familienverhältnisse einpassen will, versucht man ihm mit jahrelangen Misshandlungen und Demütigungen der schlimmsten Art auszutreiben. Der Kontakt zum leiblichen Vater wird unterbunden, so dass sie weder weiß, wo er ist, noch ob er überhaupt noch am Leben ist.
An ihrem achtzehnten Geburtstag flieht Nadia aus dem gewalttätigen Zuhause nach Italien, schlägt sich dort als Illegale durch, gerät an die falschen Leute, wird ausgenutzt, muss sich prostituieren, wird drogenabhängig - das volle Programm. Als sie schließlich durch eine Therapie frei von Drogen ist, dafür aber mittellos schwanger, bleibt ihr keine andere Wahl, als vorübergehend in den Schoß der tyrannischen Familie zurückzukehren. Ihr Leben scheint wie ein ständig sich neu entfaltender Alptraum zu sein. Aber es gibt doch Fortschritte. Immer wieder schafft sie es, sich aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer Menschen aus dem Sumpf der Verzweiflung herauszuarbeiten, nicht aufzugeben, obwohl sich bestimmte Schemata des Ausgenutztwerdens in ihrem Leben gebetsmühlenartig zu wiederholen scheinen. Aber nie kann sie ihren leiblichen Vater vergessen, und sie sehnt sich nach der Liebe und Geborgenheit, die sie als kleines Mädchen auf seinem Schoß spürte. Und dann beginnt sie eines Tages, ihn zu suchen. Die wunderbare Wiederbegegnung findet schließlich statt, und es stellt sich heraus, dass, anders als man es ihr erzählt hat, auch ihr Vater nie aufgehört hat, sie zu lieben und sich nach ihr zu sehnen. Und noch etwas Wunderbares findet Nadia heraus: da ist noch jemand, der sich "Vater" nennt ...

Nadia gibt es wirklich, aber sie heißt anders, und auch die Autorin Lidia Czyz hat ihre Geschichte nur stellvertretend aufgeschrieben. Das ist sicher besser so; nach solch heftigen Vorgängen ist es gut, dass die richtigen Namen der Beteiligten nicht bekannt sind. Ich hätte es allerdings gut gefunden, darüber im Vorwort statt erst im Nachwort aufgeklärt zu werden. Im ersten Augenblick wundert man sich doch, dass die Dialoge so ausführlich wiedergegeben werden; ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, dass sie alle der exakten Erinnerung der wahren "Nadia" entsprechen. Wahrscheinlich hat die Autorin hier ein bisschen kreativ gearbeitet, um die eigentlichen Fakten anschaulich einzubetten. Aus ihrer Anfangsbemerkung, "Alles, was in dieser Geschichte außergewöhnlich erscheint, ist tatsächlich passiert", lese ich heraus, dass alle drastischen, aber auch alle wunderbaren Erfahrungen substantiell richtig berichtet sind, dass aber an den unbedeutenderen Details gefeilt wurde. Das geht vielleicht auch gar nicht anders, wenn man ein lesbares Buch schreiben möchte, trotzdem hätte ich zum Thema Fakt oder Fiktion ein etwas genaueres Statement begrüßt.

Die Autorin schreibt in einem flüssigen Stil, den man schnell mal so weglesen kann.
Aber teilweise ist es schwer erträglich, was da geschildert wird. Und es hört nicht auf. Man fasst sich manchmal an den Kopf beim Lesen und fragt sich, warum niemand etwas gemerkt hat. Niemand eingeschritten ist. Die Nachbarn, die Lehrer, die Ärzte. Aber das war im tiefsten Sozialismus, und offensichtlich waren die Leute alle behördenhörig (die Mutter hatte nämlich Einfluss in der Stadtverwaltung). Eine Lehrerin hat es versucht, ja. Entsetzlich naiv; danach hat das Kind angefangen, Lügen zu erzählen, damit das nicht nicht nochmal passiert...
Schockierend fand ich auch, dass Nadia in einer späteren Phase, als es ihr eigentlich schon besser ging, immer noch glaubte, sich bei ihren Wohltätern mit Sex bedanken zu müssen. Das ist zwar leider ein bekanntes Muster missbrauchter Frauen, aber an dieser Stelle fehlt mir ein relativierender Kommentar der Autorin. Zu sehr wird dieses Verhalten als völlig legitim, ja normal, stehengelassen.
Die Geschichte insgesamt ist auf jeden Fall sehr glaubwürdig. Allerdings frage ich mich, ob man ein paar der ausführlichen Schilderungen des Elends nicht hätte reduzieren können. Ich glaube, jeder Leser hat nach kurzer Zeit kapiert, dass das Leiden, das diese Frau erlebt hat, jeder Beschreibung spottet. Manche Dialoge hätte man gut und gerne ein bisschen abkürzen können. Auch die Leidensfähigkeit eines Lesers ist begrenzt. Nach drei Vierteln des Buches voll mit abgrundtiefem Leiden müsste doch langsam mal etwas Aufbauendes kommen?

Der Schluss reißt es raus. Er ist sehr berührend, authentisch, radikal. Wie kann man bei so abgrundtief unmenschlichen Grausamkeiten überhaupt auch nur an das Wort "Vergebung" denken? Man kann. Das ist das große Wunder am Ende der Geschichte. Dass man mit Gott über solche undurchdringlichen Mauern springen kann. Aber auf keinem anderen Weg.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 20. Oktober 2017 um 23:34

Fein geschrieben. Wieder ein Buch, das ich nicht lesen will. Grrr. Aber meine Lektüre ist nicht ein Jota aufbauender momentan. Da wende ich mich jetzt mal der Fantasy zu. Da weiß man wenigstens, egal, wie dick es kommt, es ist alles erfunden!

sphere kommentierte am 21. Oktober 2017 um 10:20

"Der Schluss reißt es raus. Er ist sehr berührend, authentisch, radikal. Wie kann man bei so abgrundtief unmenschlichen Grausamkeiten überhaupt auch nur an das Wort "Vergebung" denken? Man kann. Das ist das große Wunder am Ende der Geschichte. "

Vielen Dank für deine Rezension, dieses Buch habe ich nie wahrgenommen, doch alleine dein letzter Absatz setzt es auf meine Wunschliste. Dringend.