Rezension

Sehr aktuelles, gut lesbares Buch

Mulans Töchter - Bettine Vriesekoop

Mulans Töchter
von Bettine Vriesekoop

Bewertet mit 5 Sternen

Mancher Leser dieses hochaktuellen Sachbuchs wird sich fragen, warum die Autorin bis zu den gebundenen Füßen chinesischer Frauen oder zu den Familienstrukturen in den Romanen Pearl S. Bucks zurückgeht, um die Lebenssituation chinesischer Frauen in diesem Jahrtausend zu analysieren. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Bucks Romane noch immer zum Verständnis Chinas beitragen. Buck, die in China aufgewachsen ist,  beschreibt Großfamilien, in denen wohlhabende Männer Kinder mit mehreren Frauen hatten, die im gemeinsamen Haushalt aufwuchsen. Der Wertekanon des Konfuzianismus gab damals Respekt gegenüber den Eltern, Lehrern und Arbeitgebern vor – und tut es bis heute. Regimes und Dynastien kamen und gingen, der Konfuzianismus überdauerte sie alle. Das Kapital von Frauen war ihre Schönheit und ihre Fähigkeit, Söhne zu gebären. Wie diese Werte in China bis heute das Zusammenleben von Mann und Frau steuern, zeigt Bettine Vriesekoop anschaulich. Stärker noch als zu Zeiten Pearl S. Bucks ist eine Ehe in China heute ein Geschäft, bei dem die Liebe manchmal nach der Hochzeit kommt und Elternpaare vom finanziell aufwendigen Projekt Kind wirtschaftlichen Erfolg einfordern.  Wie eine Gesellschaft davon geprägt wird, dass Eltern bis heute die Ehepartner ihrer Kinder aussuchen und die jüngere Generation nicht lernt, für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen, wird in den Interviews deutlich. Veränderungen kamen in China stets von oben …

China leidet seit langem unter extremem Frauenmangel, weil während der Hungersnöte zwischen 1959-61 Mädchen offenbar zuerst verhungerten und Söhne bessere Überlebenschancen hatten. Während der Ein-Kind-Politik kamen auf 120 Geburten von Jungen nur 100 Mädchen. Frauen haben, gemessen an ihrem knappen Vorkommen, jedoch bis heute Probleme in Beziehungen, die sich Leser in westlichen Ländern schwer vorstellen können. Dem Zugang zu Informationen über Sexualität, Homosexualität, Verhütung, HIV, Prostitution spürt Vriesekoop nach in Interviews mit Expertinnen und interessanten Persönlichkeiten. Anders als Xinran, die das Ausweichen und Beschönigen ihrer Interviewpartner selten hinterfragt, geht Vriesekoop -  typisch europäisch - sehr direkt vor, jedoch stets mit Empathie und Respekt gegenüber ihren Gesprächspartnerinnen. Die Autorin reiste 1980 zum ersten Mal nach China, kann also die rasante Entwicklung des Landes seitdem aus eigener Anschauung beurteilen. Die Generation, deren Eltern 1989 auf dem Tiananmen-Platz demonstrierten, hat bis heute mit gesellschaftlicher Abwertung von Frauen, unvorstellbarer Unwissenheit über Sexualität und Rollenbildern zu tun, die sich mit der modernen Berufswelt nicht vereinbaren lassen.

Die Lektüre lohnt  sich allein dafür, dass einem als Leser am Beispiel der gebundene Füße klar vor Augen steht, wie lange Tradition dem Gesetz hinterher hinken kann und dass es oft  die Mütter sind, deren  Werte der Gleichberechtigung ihrer Töchter im Wege stehen. Bettine Vriesekoop verfügt über profundes kulturhistorisches Wissen und kann ihre Leser mit einem gut lesbaren Text fesseln.