Rezension

Sehr authentisch, emotional und aufwühlend.

Alles, was ich bin - Anna Funder

Alles, was ich bin
von Anna Funder

Unsere Freiheit - was sie gekostet hat. Ein Erinnern.

Es war im Januar 1933 in ihrer Berliner Wohnung am Schiffbauerdamm, als Ruth Becker und Hans Wesemann durch die Übertragung im Radio und die Rufe des Volkes, die in die geöffneten Fenster drangen, Zeuge einer tiefgreifenden Schicksalswende für ihr Vaterland wurden. Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Die Volksbegeisterung brandete auf, ein pausenloser Redefluss von Göring und Goebbels hämmerte aus dem alten Radioempfänger auf die Hörer ein und der Kommentator bekräftigte die Aussage der Jubelnden, dass "Deutschland niemals in der Anarchie des Kommunismus untergehen wird".

" Nein, das wird es sicherlich nicht", bestätigt Ruth in diesem Moment, "der Untergangs wird uns in Reih' und Glied, mit einem gesunden Volksempfinden vorfinden."

Diese Szene, in der bereits soviel Wissen und unterschwellig vorhandene Ahnung liegt, ist der Auftakt zu Anna Funders Buch über eine Widerstandsbewegung gegen den Terrorismus des Dritten Reiches.

Es handelt von geschichtlich dokumentierten Personen, die sich verbunden durch  ihre gleiche Gesinnung in der Bekämpfung von Unrecht, der Verteidigung ethischer und moralischer Menschenwürde und der Bewahrung der Freiheit von Körper und Geist zusammengefunden hatten.

Die jüdische Ärztin Dr. Ruth Becker mit ihrem Ehemann, dem Journalisten Hans Wesemann, die Frauenrechtlerin und ehemalige Reichstagsangestellte Mathilde Wurm sowie der Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller und dessen Geliebte, Dora Fabian, eine Freundin Mathilde Wurms und eine Cousine von Ruth Becker, bildeten eine Freundesgruppe, deren Auffassung und Ziele die Basis für einen erbitterten Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten bildeten.

Die Aufgabe für die im Untergrund arbeitenden Freunde wurde jedoch so gefährlich und lebensbedrohlich, dass eine Flucht nach Großbritannien nicht zu vermeiden war. Allerdings waren die Grenzen kein Schutz vor Verrat, boten keine Sicherheit gegen die todbringenden Verknüpfungen eines Regimes, das totalitär und menschenverachtend arbeitete.

Als Dora Fabian und Mathilde Wurm 1935 tot in einem Londoner Hotelzimmer aufgefunden wurden, verbreitete man den Suizid-Verdacht und duldete keinerlei schuldhafte Verbindung zur Gestapo.

Die verschiedenen Perspektiven des Romans werden dem Leser durch Rückblicke nahe gebracht, die einerseits verstörend und beklemmend, andererseits hoffnungsvoll und bewunderungswürdig wirken und Fragen nach eigenen Verhaltensweisen aufkommen lassen.

 So erlebt man die schweren Jahre der Nazi-Zeit in den Aufzeichnungen, die Ernst Toller seiner Sekretärin Clara diktierte, bevor er 1939 Selbstmord beging und Ruth Becker, die in einer Klinik in Sydney lebte, erinnert sich an diesen gewaltigen Lebensabschnitt, bevor ihre Alzheimersche Erkrankung vielleicht einmal alles mit ihren Schatten überziehen wird.

 Anna Funder hat ein gut recherchiertes, eindringliches Buch geschrieben. Der Zeitabschnitt, der dies aufwühlende Geschehen in sich birgt, ist einer der bedeutendsten, grausamsten und bewegendsten Abschnitte deutscher Geschichte, zu dem - zumindest zum heutigen Zeitpunkt - noch gedankliche Bindungen bestehen, die zum Teil aus mündlichen Überlieferungen stammen. Es wird aber eine Zukunft geben, in der alle Münder schweigen müssen, weil der Tod sie verschlossen hat und dann wird die Wichtigkeit eines solchen Romans ins Unermessliche steigen. Er soll und er muss am Vergessen hindern, denn nur dann besteht die Möglichkeit, dass dieser Teil der Geschichte sich nie wiederholt.

Sehr empfehlenswertes, tiefgreifendes Buch, das auf eindringliche, ungeschriebene Fragen Antworten erwartet.