Rezension

Sehr bewegende Geschichte

Kurt - Sarah Kuttner

Kurt
von Sarah Kuttner

Bewertet mit 5 Sternen

Der Inhalt von Kurt ist schnell zusammengefasst: Protagonistin Lena lebt mit zwei Kurts zusammen. Dem großen Kurt, ihrem Partner und dem kleinen Kurt, seinem Sohn aus einer früheren Beziehung. Der kleine Kurt pendelt zwischen zwei Familien hin und her: Eine Woche lang lebt er bei seiner Mutter, in der nächsten wohnt er bei Lena und seinem Vater, die extra aus Berlin nach Brandenburg gezogen sind, damit dieses Modell funktioniert. Doch eines Tages endet das Leben des kleinen Kurts ziemlich tragisch: Er fällt vom Klettergerüst. Sarah Kuttner erzählt nicht nur, wie Lena mit der Trauer um den kleinen Kurt umgeht, sondern auch, wie der Tod des kleinen Kurts ihre Beziehung zu dem großen Kurt verändert. 

Das Interessante ist, dass es in Sarah Kuttners Roman keine für mich sichtbaren Handlungsstränge gibt. Kurt handelt mehr von Szenen, die alle ein Thema haben: Den Tod des kleinen Kurts. Die Szenen beziehen sich nicht immer aufeinander, was mir zeigt, dass es Sarah Kuttner nicht primär darum ging, Handlungsstränge zu verstricken. Die Szenen stehen mehr für sich. Einige Momente haben mich beeindruckt, mitgenommen, wütend oder vielleicht auch traurig gemacht. Andere Szenen sind an mir vorbeigegangen und ich habe gemerkt, dass ich noch nicht ganz verstanden habe, was Sarah Kuttner uns mit diesen Szenen sagen wollte. Aber ich habe das nicht als Problem empfunden. 

Sarah Kuttners Roman zeichnet sich vor allem durch seine Charaktere aus - allen voran Ich-Erzählerin Lena: Sie lebt schon ein paar Jahre mit ihrem Partner Kurt zusammen und hat dem kleinen Kurt bisher aus einer sicheren Entfernung beim Aufwachsen zugeschaut. Sie musste keine Verantwortung übernehmen, war nicht Teil seiner Erziehung, aber war sich auch nicht sicher, was sie für den kleinen Kurt war. Stiefmutter? Oder doch lieber eine Freundin? Doch leider sollte sie nicht die Gelegenheit bekommen, ihre Rolle in der Patchworkfamilie zu finden.
Nach dem Tod des kleinen Kurts muss sich Lena fragen: Wie sehr darf sie eigentlich um einen Jungen trauern, den sie zwar geliebt hat, der aber auch nicht ihr eigener Sohn ist?

Diese Frage fand ich zwar spannend, aber ich konnte sie auch nicht ganz nachvollziehen. Sarah Kuttner beschreibt, dass Lena und der große Kurt schon länger zusammen sind. Dass sie nicht weiß, ob sie sich in die Erziehung des kleinen Kurts einmischen darf, konnte ich gut nachvollziehen. Schließlich war nicht klar, ob Lena der Grund war, dass die Ehe des großen Kurts auseinander ging. Aber gerade weil Lena schon jahrelang mit dem großen Kurt zusammen war, war der kleine Kurt auch ein Teil ihrer Familie und ihres Alltags. Deswegen war es für mich gar keine Frage, ob sie um den Jungen trauern darf, weil sie aus meiner Sicht ein Recht darauf hat, wie jede*r andere auch. . 

Sarah Kuttner arbeitet Lena als Protagonistin aber sehr gut heraus: Ihre Unsicherheit, ihre Verletzlichkeit und der Wunsch irgendwie helfen zu wollen, aber nicht zu wissen, was sie tun kann, wurden für mich sehr deutlich. 

Aus meiner Sicht war der große Kurt der zweite Protagonist der Geschichte. Wir erleben ihn eher passiv, was hauptsächlich daran liegt, dass er sich nach dem Tod des kleinen Kurts zurückzieht und Lena nicht viel von ihm mitbekommt. Allerdings lernen wir den großen Kurt immer wieder in Szenen kennen, erleben seine Verletzlichkeit und seine Liebe zu Lena und dem kleinen Kurt. 

Vor allem erleben wir den großen Kurt aber in Lenas Erzählungen. Sie erzählt uns, wie sie Kurt wahrnimmt und dabei wird deutlich, wie gut sie ihren Partner kennt und wie schlimm es für sie ist, zu erleben, dass sie nach dem Tod des kleinen Kurts keinen Zugang mehr zu ihm hat. 

Sarah Kuttner stellt uns außerdem Nebencharaktere vor, die ich manchmal nur schwer voneinander unterscheiden konnte. So lernen wir beispielsweise Lenas beste Freundin kennen, oder erleben Kurts Ex-Frau im Dialog mit Lena. Interessant für mich war hier, welche Beziehung Lena zu den beiden Frauen hatte: Ihre beste Freundin möchte für Lena da sein, nimmt aber wahr, dass Lena stark sein möchte. 
Lena und Kurts Ex-Frau hatten noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis. Wie soll sich das nur durch den Tod des kleinen Kurts ändern? 

Obwohl es in Kurt keine klassische Handlung gab, war ich froh, Lena und die beiden Kurts eine Zeit lang begleiten zu können. Sarah Kuttner hat die zentralen Fragen zum Thema Trauer aus meiner Sicht gut herausgearbeitet und die Geschichte durch ihre Charaktere und deren Gefühlsleben und nicht primär durch die Handlung sprechen lassen, was ein interessantes Stilmittel ist. 

Bei Sarah Kuttners Schreibstil lernen wir sehr schnell die typische Berliner Schnauze kennen, oder zumindest das, was ich darunter verstehe. Ein leicht rauer, etwas direkter aber auch genauso liebenswerter Ton. Um an dieser Stelle ein Beispiel zu nennen: Lena bezeichnet den kleinen Kurt in einer Szene als "Schmarotzer". Für empfindliche Menschen, mag das als Angriff gemeint sein. In der Szene hingegen war es aber liebevoll gemeint. 

Sarah Kuttner hat die Stimmung in Kurt für mich sehr gut herausgearbeitet. Die Trauer, Verletzlichkeit und Unsicherheit kamen voll bei mir an. Und auch die Frage, wie es jetzt mit Lena und dem großen Kurt weitergehen soll. 
Was mir besonders aufgefallen ist: Ihre Dialoge und das, was zwischen den Zeilen passiert. 

Was für eine, vielleicht beabsichtigte, Komik, sorgte, war die Sache mit den beiden Kurts, also dem großen und dem kleinen Kurt. Manchmal irritierten mich diese vielen Kurts, manchmal brachte die Namensthematik etwas Leichtes in eine Szene mit schwerem Inhalt. 

Kommen wir nun zur Gestaltung des Hörbuches: Sarah Kuttner liest alle ihre Romane selbst ein. Bisher hatte ich sie als Sprecherin noch nicht kennengelernt. Ich wusste zwar, dass sie als Moderatorin bekannt geworden ist, habe sie dort aber nicht bewusst erlebt. Aber ich ging davon aus, das sie weiß, wie sie ihre Stimme einsetzen kann. Sarah Kuttner hat eine helle und leicht kratzige Stimme, die aber sehr gut zu der Geschichte passt. Sie muss ihre Stimme nicht großartig verstellen, um Charaktere voneinander abzugrenzen, sondern schafft es, durch ihre Betonung die wesentliche Aspekte des Romans herauszuarbeiten. Und das hat mir sehr gut gefallen.

Was ich an der Gestaltung der Verpackung besonders schön finde ist, dass die CDs nicht in einer Plastikhülle gelagert werden. Obwohl mir erzählt wurde, dass diese Art der Verpackung die günstigste Herstellung für ein Hörbuch ist, finde ich die Plastikhüllen echt nicht schön und neige zudem dazu, sie relativ schnell unbeabsichtigt zu zerstören...

Gesamteindruck 
Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, was ich von Kurt halten soll. Einerseits zeigt uns Sarah Kuttner hier eine sehr bewegende Geschichte, die sie wirklich gut herausarbeitet. 

Andererseits haben mir Aspekte, die sie im Gespräch im Rahmen der Leipziger Buchmesse erwähnte, irgendwie gefehlt und ich fragte mich, ob ich die Beispiele vor Ort einfach nur missverstanden habe und die Autorin nie signalisieren wollte, dass diese Inhalte im Hörbuch viel Raum einnehmen.

Zeitweise war ich etwas enttäuscht von der Handlung und habe mich gefragt, ob das wirklich alles ist. Ich hätte gern noch so viel mehr von Lena und den beiden Kurts gelesen. Dann finde ich es aber auch wieder faszinierend, dass es Sarah Kuttner schafft eine Geschichte, in der so viel Gefühlschaos herrscht in so wenigen Stunden zusammenzufassen und auch zu einem stimmigen Ende zu kommen. 

Neulich habe ich in einer Rezension zu Kurt wieder von einer Triggerwarnung gelesen: Vielleicht lehne ich mich hier etwas weit aus dem Fenster, aber ich finde nicht, dass man in irgendeiner Weise vor Kurt warnen müsste. Ich finde, die Autorin arbeitet das Thema Trauer und den Umgang damit hier sehr gut auf. 
Kurzum: Ich kann das Hörbuch allen empfehlen, die sich für das Gefühlsleben von Charaktere interessieren und wissen wollen, was hinter der Oberfläche passiert.