Rezension

Sehr ergreifend, intensiv und fordernd

Drei Tage und ein Leben
von Pierre Lemaitre

Bewertet mit 4 Sternen

Das Leben muss immer die Oberhand gewinnen

„Man würde wieder dorthin zurückkehren. Antoine würde keine zweite Chance bekommen. Erneut spürte er, wie sehr er sich danach sehnte, dass dieses Gewitter, das seit zwei Tagen über ihm schwebte, endlich ausbrach.“

 

Inhalt

 

Für den 12-jährigen Antoine endet seine Kindheit von einem auf den anderen Moment, nachdem er seinen kleinen Freund Remy, der gerade 6 Jahre alt ist, im Affekt erschlägt. Allein mit dieser Schreckenstat, hilflos im Angesicht der schrecklichen Bedeutung, die ihm sehr wohl bewusst ist, wirft er die Leiche in eine tiefe Grube im heimischen Wald, in der Hoffnung, dass man ihm, den Täter wider Willen nicht unmittelbar auf die Schliche kommen wird. Seine Gewissensbisse und Befürchtungen übertreffen die Ermittlungen um ein Vielfaches, denn die Polizei und Anwohner gehen eher von einem Unglück oder gar einer Entführung aus. Und so bleibt der Junge verschwunden und wird bald schon nicht mehr gesucht, denn ein Unwetter mit schwerwiegenden Schäden, macht eine Spurensuche im Wald unmöglich. Doch Antoine lebt sein eigenes Leben wie in einer Blase, pendelnd zwischen Flutverhalten und Düsternis, lauernd auf den Tag, an dem man Remy ausgraben wird … Als Jahre später die Leiche gefunden wird, und DNA-Spuren den Täter überführen könnten, trifft Antoine eine zweite Entscheidung, die sein Herz bricht, doch die Wahl zwischen einer vernichtenden Wahrheit und einer reuigen Lüge, lässt ihm keinen Spielraum.

 

Meinung

 

Der französische Autor Pierre Lemaitre, der Preisträger des Prix-Goncourt wurde, erschafft mit dem vorliegenden Roman ein intensives, erschreckendes Bildnis einer aus dem Ruder gelaufenen Situation und deren weitreichenden Folgen. Er versteht es hervorragend, den Hauptprotagonisten Antoine menschlich und zwiegespalten zu charakterisieren, er haucht dessen Handlungen und Beweggründen Leben ein und zieht den Leser damit ganz klar auf die Seite dieses unglückseligen Jungen, der so scheint es, nur ein einziges Mal einen Fehler begangen hat, der ihn nun für den Rest seines Lebens zeichnen wird.

 

Doch er versteht sich auch darauf, die Nebencharaktere und ihre Entscheidungen im Handlungsverlauf gekonnt einzuflechten, so dass ein rundes Bild der kleinen Gemeinde Beauval entsteht, in der sich die Menschen kennen und gewisse Ansprüche aneinander stellen. Die Handlung des Romans konzentriert sich auf zwei Zeitebenen. Zunächst die Vergangenheit, kurz nach dem Verbrechen und die Ereignisse drei Tage danach und im zweiten Teil, eine Zeit, gut 12 Jahre später, in der nicht nur der Protagonist erwachsen geworden ist, sondern auch die Menschen aus seinem Umfeld viele Jahre mit Höhen und Tiefen erlebt haben. Besonders intensiv steht dabei nicht nur die Frage nach der tatsächlichen Schuld im Raum, sondern vielmehr die Bedeutung einer scheinbar festgeschriebenen Zukunft, unwiderruflich, bitter und ohne jegliches Entkommen. Gerade Antoine, tritt hier als ein tiefgründiger Charakter auf, der sich zwar, wie wohl jeder eine unbescholtene Weste wünscht, doch überzeugt davon ist, sie längst verloren zu haben.

 

Damit erzeugt der Autor eine sehr vielschichtige, äußerst spannende Szenerie, die sich auf innerliche Belange ebenso konzentriert, wie auf äußere Entscheidungen. Der Leser weiß mehr als alle anderen, leidet mit Antoine und kann ihm doch nicht ganz folgen, kann nicht restlos verstehen, was ihn zu seinen Taten bewogen hat. Mein einziger Kritikpunkt besteht in dem abrupten Bruch in der Mitte des Textes, nicht nur der Zeitsprung, den man als Leser an dieser Stelle erwartet, sondern in erster Linie der Schwenk auf das Äußere hat mich gestört. Zunächst, fühlt man sich Antoine nämlich so nah, als würde man ihn schon immer kennen, während sein Leben im zweiten Teil immer blasser wird, der Mann von heute, nicht mehr die Verzweiflung von damals ausstrahlt, sich sein Leben irgendwie weiter entwickelt hat, während ich eigentlich auf den großen Knall gewartet habe. Und so verwischt der Verlauf des Lebens, der Zahn der Zeit auch ein wenig die Emotionen des Lesers. Am Ende bleibt mir Antoine fremd und ich habe nicht das Gefühl, ihn tatsächlich verstanden zu haben, was mich zugegeben etwas grämt.

 

Fazit

 

Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen aufrüttelnden, bewegenden Roman über einen Menschen in der absoluten Ausnahmesituation. Intensive Momentaufnahmen, ergreifende Schicksale und traurige Wahrheiten inbegriffen. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen und für einen kurzen Augenblick sehr froh zu sein, anders, unbescholten und hoffnungsfroh durchs Leben gehen zu können und dennoch zu spüren, dass es ganz anders sein könnte, wenn das Schicksal einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Gespannt werde ich mich nun dem preisgekrönten Roman „Wir sehen uns dort oben“ des Autors zuwenden und auf ebenso ergreifende Lesestunden hoffen.