Rezension

Sehr guter Anfang, schwaches Ende

Ismaels Orangen, 6 Audio-CDs
von Claire Hajaj

Bewertet mit 3 Sternen

Vor einigen Stunden habe ich die letzte Seites dieses Buches gelesen und habe wirklich etwas Zeit gebraucht um meine Gedanken dazu zu sammeln. Denn selten hat mich ein Buch in einen solchen Zwiespalt versetzt. Ich muss auch wirklich gestehen, dass ich mir anhand des Klappentextes eine völlig andere Geschichte vorgestellt habe. Der Klappentext ist ansprechend, keine Frage. Denn sonst hätte ich das Buch auch nicht gekauft. ;-)

Im ersten Teil des Buches war ich fasziniert von der Geschichte der beiden Kinder. Die unterschiedlichen Welten, in denen sowohl Judit als auch Salim aufwachsen.
Die Unbeständigkeit in Salims Kindheit, die Ungewissheit und auch Angst, was der Zukunft bringen wird. Gerade für ein Kind, das vieles in seinem bisher noch jungen Leben als selbstverständlich und gegeben ansieht, ist der Verlust des Bekannten ein großer Schock. Das Salim im Verlauf seiner Jugend auch noch seine Mutter verliert, war für mich besonders tragisch.
Dagegen steht Judits Kindheit in England. Zwar behütet, aber doch auch sehr von der Vergangenheit geprägt. Was kein Wunder ist, denn hier trit das erste Mal ein Generationenkonflikt zu Tage. Während für die einen der Geschehnisse des Holocaust noch greifbar sind, sind es für die junge Judit nur Erzählungen ihrer Familie, zu denen sie keinen rechten Bezug finden kann.
Beiden Kindern ist jedoch eines gemein und das ist eine schon fast erdrückende und von den Eltern aufgedrückte Haltung zu ihrer jeweiligen Vergangenheit. Das wird gerade bei Salims Gesprächen mit seinem Jugendfreund deutlich: eine Mischung aus Hörensagen, Nachplappern der Erwachsenen und - in Salims Fall - auch ein bisschen eigenes Wissen, denn er ist immerhin mit einem jüdischen Jungen befreundet. In Judits Fall gipfelt es in einem Streit, weil das Mädchen die Klöße an einem Feiertag nicht essen möchte in einer Diskussion darüber, das andere sehr wohl glücklich wären etwas zu essen zu haben und welche Opfer dafür in der Vergangenheit bringen mussten.

Auch das Kennenlernen der beiden emfpand ich ganz toll beschrieben. Vorsichtig herantastend und sehr gefühlvoll beschreibt Claire Hajaj die beiden jungen Leute. Sprachlich ist es ebenso schön gehalten. Sehr bildhaft, ohne dabei überladen zu sein. Die anstehenden Konflikte mit beiden Familien zeichnen sich bereits im Hintergrund ab und haben in mir ein eher trauriges Gefühl ausgelöst. Denn diese beiden Kinder können es ihrer Elterngeneration nicht recht machen. Die Erwartungen an die jeweils einzuschlagenden Lebenswege sind einfach zu hoch. Da ist eine multikulturelle Ehe vermutlich nur das i-Tüpfelchen. Dennoch wünscht man diesen beiden jungen Leuten einfach nur das Beste und hofft mit ihnen, dass ihre Liebesgeschichte alle Widrigkeiten überstehen kann.

Und dann tut die Autorin etwas, dass ich bis zum Ende des Buches nicht verstanden habe. Sie kürzt die Geschichte ganz stark ein und unternimmt große Zeitsprünge. Im einen Moment liegen beide sich in den Armen weil sie erkennen, dass sie sich lieben und im nächsten Moment sind sie verheiratet, haben Kinder und leben in einem völlig anderen Land. Wo ist die Zwischenzeit geblieben? Die Zeit vor der Hochzeit wird nur kurz eingestreut und nicht weiter erwähnt. Und dann beginnt das Buch für mich nachzulassen. Den zweiten Teil habe ich nicht mehr als so toll empfunden.
Salim, den man als Leser als sensiblen und überlegten jungen Mann kennengelernt hat, driftet im Verlauf der Geschichte in wohl fast jedes Klischee ab, welches der Westen von der arabischen Kultur hat. Seine Figur ist plötzlich eindimensional und seine Handlungen nicht nachvollziehbar. Mir fehlen hier einfach die Momente, in denen auf mehr eingegangen wird als seine permanente Enttäuschung und gefühlte Zurückweisung. So bleibt am Ende nur das Bild eines Mannes, der mit dem an ihm gestellten Druck nicht umgehen kann und sich in blinden Aktionismus flüchtet. Auf Kosten seiner eigenen Familie. Denn Salim fordert zwar viel von seiner Frau und seinen Kindern, aber er erklärt seine Beweggründe nur äußerst selten. Und wenn, dann nur knapp und nicht so ausreichend, dass man diese als Leser für seine weiteren Handlungen nachvollziehen kann.

Und das Ende - tut mir leid, aber das war für mich vollkommen an den Haaren herbeigezogen.
Salim hat durch sein Verhalten einen riesengroßen Anteil am Tod seines Sohnes. Das sich die Familie zur Pflanzung eines Baumes für Marc trifft, finde ich eine schöne Geste. Dass Judit nach allen Geschehnissen ihm aber eine zweite Chance gibt, und unbefangen wie ein Backfisch mit ihm durch Jaffa spaziert - das setzt für mein Empfinden allem die Krone auf. Gibt es wirklich ein Elternteil, dass nach allen Geschehnissen so viel Altruismus walten lassen kann? Ich möchte es stark bezweifeln.

Am Ende bleiben für mich daher 3 Sterne für "Ismaels Organgen", die sich das Buch fast ausschließlich durch seinen wunderbaren ersten Teil verdient hat.