Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Sehr guter Roman!

Das indiskrete Leben der Alice Horn - Anne L. Marstrand-Jørgensen

Das indiskrete Leben der Alice Horn
von Anne L. Marstrand-Jørgensen

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt:

"Es ist das Jahr 1969. Getrimmte Hecken, akkurat gestutzte Vorgärten und penibel vorgezogene Gardinen bestimmen das Leben der Vororte. Doch die Verheißung einer neuen Zeit liegt in der Luft: Revolutionäre Ideen verbreiten sich wie Lauffeuer, Kommunen und Swingerclubs schießen aus dem Boden, und in der Sommerhitze lassen immer mehr Menschen ihre Hüllen fallen: Freie Entfaltung! Freie Liebe! Freie Sexualität! Während Eric sich den neuen Idealen mit Haut und Haar verschreibt, stürzt seine zurückhaltende Frau Alice in einen zermürbenden Konflikt: Kann sie eine offene Beziehung führen, mit anderen Männern schlafen? Was wird aus ihrer Ehe, ihrer Familie, ihren Töchtern? Zwischen sexueller Experimentierlust und Prüderie, Emanzipation und Selbstaufgabe verliert Alice zunehmend den Halt in ihrem Leben und sich selbst aus den Augen. Und steuert auf eine Katastrophe zu, die ihre ganze Familie zu verschlingen droht … Mit emotionaler Kraft und psychologischem Feingefühl erzählt dieser Roman von einer Frau, die im Schatten der revolutionären 1970er dem Treibsand des Selbstverrats zu entgehen versucht, von Töchtern, die sich und ihre Weiblichkeit neu erfinden müssen, von einer Familie, deren Grundfeste sich auflösen. Und stellt die wichtigste aller Fragen: Wie frei ist der Mensch? "

Meine Meinung:

Der Roman ist absolut lesenswert und auch sprachlich und stilistisch auf einem hohen Niveau angesiedelt. Eines der besten Bücher des Jahres 2014!
Eine Gesellschaftskritik, die zugleich die neuere (Sozial) Geschichte abbildet und Fragen der Geschlechtergerechtigkeit aufwirft, ohne je penetrant zu wirken.

Die Autorin entmystifiziert die "freie Liebe" und zeigt auf, dass ein alternativer Lebensstil am besten mit dem nötigen Kleingeld im Rücken realisierbar ist. War die 68'er Bewegung primär ein Elitenphänomen von wohlhabenden, satten Menschen, die sich für den Marxismus und Körperkult begeisterten?
Alice Horn, Tochter eines versehrten Kriegsheimkehrers, ist geprägt von einer kargen Kindheit und erlebt, wie ihre Mutter in der Wäscherei schuftet.
Daher empfindet sie es als Privileg, "nur" Hausfrau und Mutter sein zu dürfen, zumal sie früh zur Vollwaise wird.
Auch hat sie es als soziale Aufsteigerin nicht leicht, sie möchte ihren Mann um jeden Preis halten und nimmt ihren durch soziale Aufwärtsmobilität neuerlangten Status nie als selbstverständlich hin.

Die sensible Alice, die auch finanziell abhängig ist, entzieht sich der Patnertauscherei schliesslich auf tragische Weise ...

Ihr Mann Eric, den sie über eine Kollegin in der Krankenschwesternschule kennenlernt, studiert das "sichere" Fach Ökonomie und setzt sich in der Mensa gerne zu den Geisteswissenschaftlern :) Im Grunde seines Herzens ist er reaktionär, er hält sich aber für progressiv. Er verwechselt eine offene Ehe mit Gleichberechtigung und freie Liebe mit Freiheit.

Zum Einen schätzt er sein bügerliches Zuhause, zum anderen begeistert er sich für das Kommunenleben. Mit Kommunardin Rachel, einer Professorentochter, hat er eine Affäre, kommt aber nicht damit zurecht, dass sie auch andere Männer trifft.
Diese Affäre soll nicht ohne Folgen bleiben, und überhaupt zeigt die Autorin auf, dass Sexualität immer emotionale Folgen hat, vor allem für Frauen. Die Pille emanzipiert nach dieser Lesart vor allem die Männer.

Doppelmoral und eine gewisse Spießigkeit der linksliberal - alternativen Kreise werden ebenfalls thematisiert. Als Alice Tochter Flora Jahre später in ein alternatives Viertel ziehen möchte, muss sie schon einen guten, gesinnungskonformen Grund vorweisen können. Die andere Tochter, Marie Luise, wird als Teenager schwanger, und kann sich weder vom Kindsvater noch von Eric wirklich Hilfe erwarten. Der  Sohn Martin möchte einfach nur einen Vater, wo Eric ein "Kumpel" sein will. Wenigstens darf er dann Eric auf seinen Selbstfindungstrip nach Indien begleiten.

Aber auch Kinder von Hippieeltern sind nicht immer glücklich, Mia, Floras beste Freundin, leidet unter dem Lebensentwurf ihrer Mutter Elinor.

Die Autorin redet aber nicht einem radikalen Feminismus das Wort, sondern zeigt auf amüsante Weise die Vor - und Nachteile eines Frauenlagers auf, das in den 70ern schwer angesagt war, und paradoxerweise auf ein androzentrisches Weltbild verweist.

Männer und Frauen sind im Roman trotz der "sexuellen Revolution" nicht gleichberechtigt, Kinder nicht unbedingt freier (aber auch nicht unfreier) , und bis zur Geschlechtergerechtigkeit ist es wohl noch ein weiter Weg, da viele Hierarchien (Jungs müssen cool sein, Mädchen schlank und schön) noch immer gelten.

Fazit:

Ein tiefsinniger, kluger Roman, der nie vorhersehbar ist und auch sprachlich und stilistisch zu überzeugen vermag.