Rezension

Sehr intensiv und berührend

Was Nina wusste - David Grossman

Was Nina wusste
von David Grossman

Bewertet mit 5 Sternen

Der Klappentext fasst den Roman sehr gut zusammen. Grossman erzählt die Geschichte einer über Generationen traumatisierten Familie, die, wie man im Nachwort erfährt, auf wahren Begebenheiten beruht.

Drei Frauen und ein Mann: Vera, 90 Jahre, ihre Tochter Nina, um die 60 Jahre sowie Gili, 39 Jahre und Gilis Vater Rafael fahren gemeinsam nach Kroatien auf die Insel Goli Otok. Hier musste Vera fast 3 Jahre lang in einem jugoslawischen Straf- und Umerziehungslager Titos verbringen. Ihr Mann Milos hatte sich noch in Haft erhängt. In dieser Zeit verblieb ihre gemeinsame Tochter, die damals 6 jährige Nina ohne ihre Eltern. Obwohl dies nun alles schon sehr lange her ist, wird die „Familie bereits über drei Generationen vergiftet“, geprägt und traumatisiert von der Diktatur und dem Krieg. Was damals genau geschah und welche Spuren dies hinterließ, davon erzählt dieser Roman. Handlungsorte sind schwerpunktmäßig Jugoslawien vor, während und nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere das Umerziehungslager Goli Otok sowie ein Kibbuz in Israel.

Die Geschichte nahm mich sehr gefangen, entwickelte einen starken Lesesog und schuf ein beeindruckend intensives Leseerlebnis, aufwühlend, berührend und ins Innerste gehend. Schon auf den ersten Seiten kamen mir die Tränen. Angesichts des beschriebenen Leids wurde ich zu tiefem Mitgefühl angeregt, jedoch nie herunter gezogen. Es las sich zwar traurig und schmerzhaft, aber auch ein wenig schräg und humoristisch, so dass ich oft schmunzeln und auch lachen musste. Zudem beeindruckten mich diese starken Figuren sehr.

Die seelisch sehr tief gezeichneten Figuren kamen mir sehr nahe, als Leser*in war ich sehr dicht an ihnen dran, obwohl man alles aus Gilis Perspektive erfährt. In den Zeiten wird immer wieder gewechselt, manchmal muss man auch sehr genau aufpassen, um zu bemerken, wessen Innenleben gerade eingefangen wird.

Rafael und Gili sind Filmemacher, daher lag es nahe, dass sie alles von ihrer Fahrt nach Goli Otok aufzeichnen, insbesondere die Gespräche miteinander. Gili fungiert zusätzlich noch als „Scriptgirl“, so dass man auch als Leser*in klare filmische Sequenzen vor Augen hat.

Bei Vera, der außergewöhnlich charismatischen, starken, tätigen und sehr hilfsbereiten Frau laufen alle Fäden zusammen. Sie wurde in einer ungarisch-jüdischen Familie geboren und heiratete den Serben Milos. Eine damals sehr ungewöhnliche, nicht allseits akzeptierte Verbindung, aber die Liebe zwischen den beiden schien ungewöhnlich stark.

Ihre Tochter Nina ist hingegen kaum greifbar, unnahbar, stets auf der Flucht, „sie ist da und zugleich abwesend“, „sowohl das verirrte als auch das schwarze Schaf“ der Familie.

Gili, die Erzählerin, steht kurz vor der Trennung, da sich ihr Lebensgefährte ein Kind wünscht. In Bezug auf ihre Mutter ist Gili sehr verbittert, wütend und böse, weil sie so früh von ihr verlassen wurde. Im Verlauf der Reise erfährt und sieht sie jedoch sehr viel und langsam verändert sich ihre Perspektive.

Die Geschichte dieser „verkappten“ Familie mit ihren starken Persönlichkeiten wird hier äußerst eindrücklich und psychologisch tief erzählt. Dabei wird die Geschichte der Juden gestreift, die Geschichte des Balkans, Krieg, Faschismus und Kommunismus. Es geht um Verlust, Verrat, Verlassenwerden, Mutterschaft, Liebe zum Kind, Liebe zum Mann und zur Frau. Und vor allem geht es um die Entstehung von Traumata, deren Langzeitfolgen, die Weitergabe an die folgenden Generationen sowie die versuchte Heilung.

Eines meiner Lesehighlights des Jahres!