Rezension

Sehr vielschichtig mit toller Prosa

Ein Sommer in Brandham Hall - L. P. Hartley

Ein Sommer in Brandham Hall
von L. P. Hartley

Dies ist eine Neuauflage inklusive Neuübersetzung. Erstmalig ist der Roman 1953 unter dem Titel "The Go- Between" in Großbritannien erschienen und bislang schon zweimal verfilmt worden.

Der hier gewählte deutsche Titel passt aber ebenfalls sehr gut.

Worum geht es: England 1952. Leo Colston findet sein altes Tagebuch. Es dauert ein wenig, bis er sich erinnert....an den Sommer 1900, den er, fast 13 jährig, bei seinem Schulkameraden Marcus auf dessen Gutssitz Brandham Hall verbracht hat. Fast völlig verdrängt hatte er die dortigen Ereignisse, die sein folgendes Leben allerdings überschatten und prägen sollten. So wurde er Bibliothekar, statt wie erträumt Schriftsteller und statt eine Familie zu gründen, liess er sich nie auf eine Frau ein.

Leo als Junge ist ganz anders. Er ist sehr sensibel, mehr in der Phantasie zu Hause, denn in der Realität. Er verklärt die Dinge des Lebens, romantisch und magisch. Er ist ein sehr gefühlvoller Mensch, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, mit einer Leidenschaft fürs Extreme. Er macht sich zudem viele Gedanken über das richtige Verhalten, über Sünde, Schuld und Moral.

Leo verliebt sich in Brandham Hall das erste Mal, in Marian, die ältere Schwester von Marcus, weiss es allerdings gar nicht so recht. Diese wiederum ist Lord Trimingham versprochen, liebt aber eigentlich den Pächter und Bauern Ted Burgess. Marian und Ted bitten Leo, ihre wechselseitigen Briefe zu überbringen. Er tut dies auch, im ersten Glauben dies seien geschäftliche Briefe, wird aber immer unruhiger, als er erkennt, worum es eigentlich geht. Es könnte alles fatale Konsequenzen haben...

Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben. Die elegante, gewählte Prosa gefiel mir sehr, mit all ihren Metaphern und der gut beschriebenen Stimmung, mit all den bösen Vorahnungen und dem stets drohendem Unheil, welches verhängnisvoll über den Köpfen schwebt. Der Stil ist manchmal pathetisch, oft sehr eindrücklich, tiefgründig, lebendig und neben der ganzen Dramataik- auch amüsant (hier gefielen mir die Flachsereien zwischen Marcus und Leo sehr gut sowie die stetige Besorgnis Leos, dass im Gottesdienst nicht mehr als 50 Strophen gesungen werden, da er mehr stehend nicht schaffen und dann wahrscheinlich umkippen würde).

Die sehr interessanten Charaktere sind fein und komplex angelegt und wirken dadurch sehr authentisch und überzeugend. Vor allem Leo ist sehr tief und differenziert gezeichnet, was mir unheimlich gut gefallen hat! Seine kindliche Sicht, seine Fragen, seine Zweifel, seine Neugier, seine Empfindsamkeit, all das wird sehr authentisch wiedergegeben. Sein Schicksal hat mich sehr berührt.

Der Roman beleuchtet vor allem die soziologisch-politische und psychologische Ebene. Es geht um die gesellschaftliche Etikette der damaligen Zeit und die Problematiken der Standesunterschiede sowie um das Heranwachsen und die Bewältigung innerer und äußerer Konflikte. Romantik versus Vernunft ist ebenfalls ein deutliches Thema, der Roman ist jedoch sehr vielschichtig, so dass man hier noch sehr viel mehr entdecken kann.

Fazit: Ein toll geschriebener, dramatisch ausgefeilter, psychologisch fein beobachteter und sehr berührender Roman, samt interessantem Sittengemälde und Lebensgefühl Englands um 1900.

Absolut empfehlenswert!