Rezension

Seinen eigenen Weg gehen...

Der Wald - Nell Leyshon

Der Wald
von Nell Leyshon

Bewertet mit 5 Sternen

„Geschichten sind wichtig. Mit ihrer Hilfe versuchen die Menschen zu verstehen, warum es die Welt gibt, und warum es uns gibt.“ (S. 88 im E-Book)

Nell Leyshon hat mit ihrem Roman „Die Farbe von Milch“ eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich sehr komplex in die Gedankenwelt ihrer Protagonistin Mary hineinversetzen konnte und beeindruckte mich mit ihrem feinen Gespür für innerpsychologische Vorgänge und zwischenmenschliche Beziehungsgefüge. Ihr aktueller Roman ist nicht, wie man ausgehend vom kurzen Überfliegen des Klappentextes meinen könnte, ein „Roman gegen das Vergessen“, sondern vielmehr die tiefe Analyse einer Mutter-Sohn-Bindung im Verlauf der Zeit. Und in diesem Sinne arbeitet der Roman doch gegen das Vergessen an, durch die Fragen, die er aufwirft. Wie stark prägen uns die Erfahrungen unserer Kindheit? Ist Erziehung ein Formen oder eher ein Verformen des Kindes? Bleibt man seiner Familie für immer verpflichtet und verbunden?

Vor den Fenstern des gutbürgerlichen Hauses in Warschau, in dem der kleine Pawel sehr privilegiert mit seinen Eltern, seiner Tante und seiner Großmutter wohnt, tobt der Zweite Weltkrieg. Doch Pawels kleine heile Welt gerät erst auf den Fugen, als sein Vater, der sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Polen engagiert, einen englischen Soldaten zum Sterben mit nach Hause bringt. Die Familie fliegt auf und Pawel muss mit seiner Mutter Zofia in den Wald fliehen. Vor dem Hintergrund des harten Überlebenskampfes entsteht eine intensive Beziehung und Bindung zwischen Mutter und Sohn, welche die beiden ihr Leben lang prägen und beschäftigen wird...

Die Erzählstruktur des Romans ist liebevoll und detailverliebt ausgearbeitet. Gegenstände, die für Pawel und Zofia im Laufe der Geschichte eine wichtige Bedeutung haben, wurden als Kapitelüberschriften gewählt und tauchen an späterer Stelle wieder auf. Dieses Vorgehen fand ich großartig, bildete es doch eine Art Netz aus vielen kleinen roten Fäden, das mich durch die drei Erzählebenen begleitete. Auch Nell Leyshons Schreibstil ist beeindruckend. In prägnanten und dennoch poetischen Sätzen vertieft sie sich in Pawels kindliche Gedankenwelt und setzt sich in Zofias philosophischen Gedankengängen mit Mutterschaft, der Sinnlosigkeit des Krieges und der Bedeutung von Musik und Kunst auseinander.

„Die Sache ist die, dass wir meinen, uns vorwärts zu bewegen. Wir meinen, dass wir uns weiterentwickeln. Wir erfinden neue Dinge: Elektrizität, das Telefon. Aber dann bricht der Krieg auf, und wir bewegen uns wieder rückwärts. Wir entwickeln uns zurück.“ (S. 44 im E-Book)

Pawel und seine Mutter Zofia sind jeweils keine reinen Sympathieträger. Manche ihrer Ansichten und Handlungen konnte ich nicht nachvollziehen und doch waren sie immer eins: menschlich, mit Ecken und Kanten, nervigen Angewohnheiten, Angst und Hoffnung. Zofia hadert sehr mit ihrer Mutterrolle und ihrem durch den Krieg stark veränderten  Lebensalltag und schafft es häufig nicht, geduldig mit Pawels neugieriger und fordernder Art umzugehen. In den Augen ihres Mannes ist der Junge zu sensibel und wird zu sehr verwöhnt. Er soll doch ein Mann werden und seine Meinung vertreten können! Doch Pawel grübelt lieber vor sich hin, macht sich Gedanken um Gott und die Welt und „nervt“ seine Umwelt, vor allem seine Mutter, mit ungewöhnlichen Fragen. Klar jammert Zofia auf einem hohen Niveau, denn immerhin erlebt ihre Familie den Krieg privilegierter als viele andere Menschen; dennoch konnte ich mich wahnsinnig gut in sie hineinfühlen. Ihre Überforderung im Umgang mit ihrem „andersartigen“ Sohn, ihr Zurückgeworfensein auf sich selbst in vielen Momenten, ihr Festhalten an alten Strukturen und ihre grundlegenden Gedanken zu Erziehung und Mutterschaft machen sie verletzlich und angreifbar. Pawels zunächst noch kindliche Naivität lässt ihn vieles an seiner Mutter nicht begreifen, ihr teilweise abweisendes Verhalten verletzt ihn. Als erwachsener Mann greift seine Auseinandersetzung mit der Bindung zu seiner Mutter viele dieser Punkte wieder auf und betrachtet sie aus einem neuen Blickwinkel.
Nell Leyshon schafft es, die Gedankenwelten und vor allem die komplexe Beziehung der beiden mit  einer sanften und leisen Wucht darzustellen, die für mich einen immer größeren Sog entwickelte. Fieberte ich im Anfang noch mit, weil sich die Erlebnisse während des Krieges überschlugen, so war ich am Ende völlig gefesselt von der Entwicklung der Protagonisten und ihrer Beziehung zueinander.

Für mich ein wirklich gelungener Roman, der viele Fragen aufwirft und zum Nachdenken über innerfamiliäre Beziehungsmuster anregt. Wie gehen Mütter damit um, wenn sich Kinder in eine andere Richtung als von ihnen erwartet entwickeln? Wieviel „schulden“ wir unseren Müttern, unsern Familien? Wann ist es in Ordnung, seinen eigenen Weg zu gehen?

„Wenn wir nur den Inhalt unseres eigenen Kopfes sortieren könnten [...]. Wenn wir nur Erinnerungen entsorgen könnten und Tage und Wochen und Monate und Jahre ganz neu anfangen könnten. Aber das können wir nicht. Stattdessen filtert und speichert unser Geist unbegrenzt, im Wachen wie im Schlafen. [...] Unser Geist schafft Spannungsbögen, Kapitel, Konsequenzen, bringt Sinn uns Chaos.“ (S. 192 im E-Book)