Rezension

Seltsam einfach poetisch und berührend

Miroloi - Karen Köhler

Miroloi
von Karen Köhler

Bewertet mit 5 Sternen

Ich scheine das neuste Skandalbuch vom Hanser-Verlag erwischt zu haben, das mir schon wieder, im Gegensatz zum anerkannten Feuilleton, wirklich gefallen hat. Wie schon bei „Stella“ frage ich mich, wer denn hier für den Skandal verantwortlich ist, das Buch oder das Feuilleton? Sollten nicht gerade professionelle Literaturkritiker dazu in der Lage sein, sich auf Andersartiges einzulassen, statt pauschal zu vernichten, was nicht den gängigen Kriterien für „Literatur“ entspricht? 

Mit großer Skepsis habe ich dieses Buch begonnen, sehr aufgewühlt habe ich es beendet. Im Nachhinein ist man sich nicht sicher, was man da gelesen hat. Es mutet an wie eine Geschichte aus uralten Zeiten, eine Sekte, die fernab der Zivilisation nach ganz eigenen Regeln lebt, eine eigene Religion hat und sogar fast eine eigene Sprache. Im Drüben gibt es allerdings Elektrizität, also befinden wir uns schon irgendwie in der heutigen Zeit. 

Da, auf der Schönen Insel im Schönen Dorf, lebt sie, das Mädchen, der Findling, das keinen Namen haben darf, weil es keine Familie hat. Sie ist von Drüben, bestimmt, und seit der großen Bestrafung hinkt sie, ist gezeichnet, als stünde es nicht eh schon auf ihrer Stirn, dass sie anders ist. 
Mit diesem Buch singt sie ihr Miroloi, ihr Totenlied, das alles erzählt, was es über sie zu sagen gibt. Sie singt es sich selbst, weil es niemand anderes für sie singen wird. 

Dieses Buch ist schwermütig und bitter, das Leben im Schönen Dorf kein Honigschlecken und für Frauen noch einmal schwerer als für Männer, obwohl auch die Regeln zu befolgen haben. Der Bethaus-Vater wacht über allen. 
Hier bekommt man plastisch vorgeführt, wie es ist, in einer isolierten Gemeinschaft zu leben, wo selbstverständlich Reformen abgelehnt werden, Patriarchen zu Tyrannen werden, Religion zum Machtmittel, um das Volk zu lenken, und ist erschüttert. Spitzfindige Parallelen zum Islam sind offensichtlich. 

Die Sprache ist höchst eigen. Auf den ersten Blick einfach und geradezu naiv, schafft sie trotzdem eine sehr eindringliche Atmosphäre, wirkt seltsam kindlich-archaisch und ist dabei zutiefst poetisch. Es befremdet erst ein wenig, beeindruckt aber, wenn man sich darauf einlässt. 
Ob so etwas Literatur sein kann, bewegt wohl gerade die Gemüter. Aber schon allein für die Diskussion, die es auslöst, gehört dieses Buch zu Recht auf die Longlist. 

Miroloi ist ein Buch, wie es sein muss. Man sofort drin, leidet mit, ist gespannt, fiebert mit. Zwischendurch fragt man sich manchmal, ob einem der Stil vielleicht doch auf die Nerven geht, dann ist es aber wieder sehr poetisch, seltsam einfach poetisch. 
Dieses Buch polarisiert, ist aber ein aufwühlendes Leseerlebnis sein, wenn man sich darauf einlässt.