Rezension

Sieben Menschen in einer kleinen Stadt

Lied der Weite - Kent Haruf

Lied der Weite
von Kent Haruf

Bewertet mit 5 Sternen

„Plainsong“ heißt das Buch im Original: Choralgesang. Ein sehr passender Titel, in zweierlei Hinsicht. 

Der Autor lässt den Leser teilhaben am Leben grundverschiedener Menschen, die sich zwar kennen, weil in der Kleinstadt jeder jeden kennt, die aber ansonsten auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben. Er gibt ihnen authentische Stimmen, die sich zunächst nur wenig harmonisch zusammenfügen, als ihre Leben sich auf einmal überschneiden – jeder bringt seine eigenen Missklänge ein in diesen Choral: Einsamkeit. Depression. Das unerfüllte Bedürfnis nach Akzeptanz und Liebe.

Die Annäherung beginnt nur vorsichtig, manchmal misstrauisch, aber man spürt sofort: da ist Resonanz. Da bringt einer im Leben des anderen etwas zum Schwingen.

Die Missklänge verstummen zwar nicht über Nacht, am Ende wird das „Lied der Weite“ jedoch zu einem Choral der Hoffnung und des gegenseitigen Respekts.

Die Schlüsselfigur des Romans ist in meinen Augen die schwangere 17-jährige Victoria, die von ihrer Mutter verstoßen wurde. Das setzt in der Kleinstadt einiges in Bewegung, vor allem unerwartete Hilfsbereitschaft: aufgenommen wird das Mädchen letztendlich ausgerechnet von den Brüdern McPheron, zwei alten Viehzüchtern, die ihr ganzes Leben lang Junggesellen waren und nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sie mit einem Teenager umgehen sollen.

Für diese beiden Charaktere allein hätte es sich schon gelohnt, das Buch zu lesen! Sie fühlen sich erst heillos überfordert von ihrer neuen Aufgabe, stürzen sich aber dennoch mit einer so schroffen wie herzzerreißenden Liebenswürdigkeit hinein – als hätten sie genau das ihr Leben lang vermisst. Dabei entbehren ihre Szenen nicht einer gewissen Komik, wenn sie versuchen, sich ihre neue Situation mit  Dingen zu erklären, die sie kennen und von denen sie etwas verstehen. Einmal vergleicht Harold das Verhalten Victorias mit dem einer schwangeren Kuh:

"Was redest du da?, sagte Raymond. Was ist denn das für ein Vergleich?
Neulich hab ich drüber nachgedacht. Über die Ähnlichkeiten. Beide sind jung. Beide sind hier draußen auf dem Land, wo nur wir sind, um auf sie aufzupassen. Beide haben zum ersten Mal im Leben ein Baby im Bauch. Überleg doch mal.
Raymond sah seinen Bruder entgeistert an. Sie waren vor dem Haus angekommen und hielten vor dem Drahtzaun auf der hartgefrorenen, zerfurchten Zufahrt. Herrgott noch mal, sagte er, das ist eine Kuh. Du redest von Kühen.
Ich mein ja nur, sagte Harold. Denk doch mal drüber nach.
Du sagst praktisch, dass sie eine Kuh ist, das sagst du doch.
Das will ich damit überhaupt nicht sagen.
Sie ist ein Mädchen, um Himmels willen. Keine Kuh. Du kannst doch nicht Mädchen und Kühe in einen Topf werfen.
Ich hab ja nur gemeint, sagte Harold. Machst du dir eigentlich nie Gedanken?
Doch. Ich denk auch manchmal nach.
Na also.
Aber ich muss nicht gleich drüber reden.
Na gut. Ich hab geredet, bevor ich nachgedacht hab. Willst du mich gleich erschießen, oder wartest du, bis es finster ist?"

Auch die anderen Charaktere erweckt Kent Haruf zum Leben, mit all ihren Marotten, Wünschen, Stärken und Schwächen – und das, ohne dem Leser jemals unmittelbar ihre Gedanken zu verraten. Man beobachtet ihr Verhalten sozusagen von außen, aber das beschreibt der Autor so prägnant, dass man schnell ein Gefühl für sie bekommt.

Plainsong – plain song – plain 

„plain“ kann vieles bedeuten, schlicht, gewöhnlich, klar, pur... Und dies ist der zweite Grund, warum der Titel so passend ist: über lange Strecken erzählt das Buch vom ganz gewöhnlichen Alltag in einer ländlich gelegenen Kleinstadt, ruhig und mit sorgsamer Langsamkeit. Hundert Seiten ziehen am Leser vorbei, ohne dass viel passiert, ohne nennenswerten Spannungsbogen.

Aber das ist nicht trivial, das ist das Leben.

Die Geschichte entwickelt ihre ganz eigene Art von Spannung, denn es ist alles so echt, so lebendig, so berührend.Ich habe in jeder Szene mit den Charakteren mitgefiebert – auch wenn sie nur dabei waren, Zeitungen auszutragen.

Schlicht, klar, pur… Das sind alles Attribute, die auf den Schreibstil von Kent Haruf zutreffen. 

Er erzählt in einfachen, bedächtigen Sätzen, die dennoch ihre ganz eigene Poesie entfalten. Sie treffen den Kern der Dinge, das Wesen der Menschen, die der Autor so liebevoll beschreibt.

Am Schluss bleiben einige Dinge offen, nicht alle Fragen werden beantwortet. Wir haben die Charaktere ein Stück ihres Weges begleitet, aber im Leben gibt es nur wenige endgültige Enden… Und so kann man als Leser höchstens erahnen, wohin sie die Reise noch führen wird.

Ich hoffe darauf, dass der Verlag auch „Eventide“ noch übersetzen wird, in dem einige der Charaktere aus diesem Buch, wie die McPherons, wieder eine wichtige Rolle spielen.   Es ist aber gut möglich, „Lied der Weite“  als alleinstehendes Werk zu lesen.

Fazit:
In einer ländlich gelegenen Kleinstadt wird die schwangere Victoria von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Durch einen Akt der Hilfsbereitschaft verändert sich daraufhin das Leben von sieben verschiedenen Menschen – vor allem das der beiden alten Viehzüchter, die das Mädchen bei sich aufnehmen, obwohl sie ihr ganzes Leben lang alleine gelebt haben und sie diese neue Aufgabe in hilflose Panik versetzt.

Man könnte sagen, dass in diesem Buch strenggenommen nicht viel passiert. Der Autor lässt sich viel Zeit, den ganz normalen Alltag seiner Charaktere zu beschreiben, bis ins Detail und ohne Drama. Aber die Klarheit der Sprache und die Komplexität der Charaktere haben mich dennoch an das Buch gefesselt.  

Es hat diese Neuauflage auf jeden Fall verdient. (Das Buch ist 2001 schon einmal unter dem Titel „Flüchtiges Glück“ im btb-Verlag herausgebracht worden.)

Kommentare

Emswashed kommentierte am 24. Februar 2018 um 12:12

Sehr einfühlsam, was Du da beschreibst. Mich erinnert es an die Great Plains in den USA. Wenn man dort lebt, bekommt man vielleicht ein gutes Stück dieser Sichtweise mit jedem Blick in die Landschaft eingetrichtert.