Rezension

Sieht man sich wirklich immer zweimal im Leben?

Die Nanny - Gilly Macmillan

Die Nanny
von Gilly Macmillan

Bewertet mit 4 Sternen

Jocelyn, genannt Jo, kehrt nach dem tragischen Unfalltod ihres Manns Chris mit Tochter Ruby auf das Familienanwesen nach England zu ihrer Mutter zurück. Seit Jos geliebte Nanny Hannah vor 30 Jahren von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, ist das Verhältnis zwischen Jo und ihrer Mutter Virginia sehr belastet. Jahrelang herrschte Funkstille zwischen den beiden, die Mutter-Tochter-Beziehung ist aktuell durch gegenseitiges Misstrauen und Vorwürfe geprägt. Ausgerechnet Jo findet beim Rudern auf dem See ein weiblichen Schädel. Die Polizei versucht fieberhaft herauszufinden, wer die unbekannte Tote ist. Zeitgleich taucht im Ort eine ältere Frau auf und behauptet, die verschwundene Hannah zu sein. Virginia hat ernsthafte Zweifel an der Identität der Frau, sie ist fest davon überzeugt, dass Hannah tot ist.

 

Autorin Gilly Macmillan schreibt flüssig, unkompliziert und klar. Mal nimmt sie die Perspektive Jos ein, mal die des ermittelnden Detectives Andy Wilton, mal die Virginias und befasst sich dabei auch mit deren Erinnerungen an die Vergangenheit. Zusätzlich werden immer wieder Abschnitte eingeschoben, in denen Wendepunkte in Hannahs Leben geschildert werden. 

 

Wem kann der Leser hier eigentlich noch trauen? Die drei Hauptfiguren Jo, Virginia und Hannah hegen Vorurteile und Ressentiments gegen die jeweils andere Frauen. Neid, Missgunst und Manipulation bestimmen ihr Verhalten und ihre Reaktionen. Auch der Polizist Andy Wilton ist voreingenommen gegen die -seiner Ansicht nach versnobte - Lady Virgina Holt, in der Dorfgemeinschaft sind die Holts ebensowenig beliebt. Was stimmt nun, was ist nur in der Phantasie der Figuren passiert, welche Rolle spielen Medikamente, die möglicherweise die Wahrnehmung beeinflussen?  Klar, dass es bei dieser Konstellation schwer fällt, Sympathien für die einzelnen Figuren zu entwickeln, was von der Autorin sicher auch nicht beabsichtigt war.

Jo wirkt auf mich recht verunsichert, könnte ruhig etwas tatkräftiger sein und sich weniger von  anderen abhängig machen, Virginia erweckt den Eindruck, nur um ihr eigenes Wohl besorgt zu sein und Hannah kommt sehr dominant, regelrecht bevormundend „rüber“. Selbst Ruby, Jos zehnjährige Tochter, scheint kein ehrliches Kind zu sein, sondern eines, dass es mit der Wahrheit und manchen Regeln nicht so genau nimmt.

 

Durch den ständigen Perspektivwechsel baut sich ganz langsam Spannung auf. Der Leser erfährt immer mehr Einzelheiten über das Verschwinden Hannahs in der Vergangenheit, auch die aktuellen Ereignisse spitzen sich dramatisch zu. Gilly Macmillan hat ihren Thriller recht geschickt konstruiert, ich war von der packenden Handlung bis zum Schluss, zur Auflösung, gefesselt. Nicht alle Entwicklungen empfand ich als logisch und nachvollziehbar, einige Erklärungen waren für mich nicht hundertprozentig überzeugend.

 

„Die Nanny“ hat mich durchgehend gut unterhalten und überrascht. Nicht unbedingt „nervenzerreißend“, aber ein solider, gut gemachter Thriller, der immer wieder raffiniert mit den Erwartungen des Lesers spielt.