Rezension

Sind wir schuld?

Es wird keine Helden geben - Anna Seidl

Es wird keine Helden geben
von Anna Seidl

Bewertet mit 5 Sternen

„Irgendjemand verbindet mein Bein und versorgt meinen Arm. Mein Dad ist da. Er will mir helfen. Tobis Mom kommt. Tobi ist tot. Bei der OP gestorben. All das bekomme ich nur durch einen Nebel mit. Ich sollte um ihn weinen. Irgendeine Reaktion zeigen. Aber ich kann es nicht. Alles kommt mir so unwirklich vor, so falsch. Ist es wirklich Wirklichkeit? Ich begreife nicht, wie das sein kann. Es ist doch ein ganz normaler Tag, so wie jeder andere auch. Alles ist doch so wie immer, sollte zumindest so wie immer sein. Was nur ist passiert? Joanne geht. Ihre Eltern bringen sie von hier weg. Dad nimmt mich in den Arm. Oma und Opa kommen, umarmen mich ebenfalls. Aber auch das fühlt sich falsch und unecht an. Eine Menge Kameras und Journalisten sind inzwischen da. Sie halten uns ihre Mikrofone hin, filmen die Schule. Ich schalte einfach ab. Ich sehe gar nichts mehr, ich höre nichts mehr. Ich fühle nichts mehr. Gar nichts. Nicht einmal das Schlagen meines Herzens. Kein Entsetzen, keine Angst. Nichts mehr. Auch die Schmerzen in meinem Bein spüre ich nicht. Auch nicht Omas Hand, die auf meiner Schulter ruht. Sie könnten mich einfach hier stehen lassen, für den Rest meines Lebens, es wäre mir egal. Es ist alles so egal.“

Es war ein ganz normaler Montagmorgen. Ein ganz normaler Montagmorgen, an dem Miriam fast verschlief, sich in die Schule schleppte, mit ihren Freundinnen quatschte, sich mit ihrem Freund verabredete… Ganz normal, bis zu dem Moment, als Schüsse die Luft zerrissen und das Schreien einsetzte…

Danach ist alles anders. Miriam hat überlebt, aber ihr Freund Tobi wurde ein Opfer des Todesschützen. Und als der erste Schock nachlässt muss sie feststellen, dass nichts in ihrem Leben mehr so ist, wie es war…

 

Auch wieder so ein Buch, das ich in einem Rutsch durchlesen musste! Es ließ sich einfach nicht mehr aus der Hand legen ;-)

Der Leser stürzt direkt hinein in den Amoklauf. Er kommt genauso abrupt, wie er in das Leben von Miriam und ihren MitschülerInnen eindringt. Zusammen mit Miriam erlebt man die schrecklichen Minuten mit, die sich zu Stunden auszudehnen scheinen.

Wer nun glaubt, dass sie Glück hatte, zu überleben, der wird sehr schnell eines besseren belehrt. Denn von Glück ist in der Folgezeit bei ihr nichts mehr zu merken. Miriam muss nicht nur den Tod ihres Freunds beklagen, auch das Verhältnis zu ihren Freundinnen ist ein anderes geworden - denn jede von ihnen hat sich geändert.

 

Das Buch ist komplett aus Miriams Perspektive geschrieben. Als Leser fühlt man sich ihr dadurch natürlich sehr nah. Und ist ganz nah dran an Angst, Verzweiflung, Frustration, Hass und Wut. Jedoch ist das Buch keineswegs einseitig. Miriam ist in einer Extremsituation – und extrem ist auch ihr Verhalten einigen Menschen gegenüber, die ihr helfen möchten.

Gemeinsam mit ihr versucht man, das Erlebte zu verarbeiten. Am Anfang steht die Fassungslosigkeit:

„Ein Amoklauf. Nein, das kann es nicht gewesen sein. Das klingt so irreal. Amoklauf klingt nach Amerika. Immer wieder hört man davon, dass es in Amerika Amokläufe gibt. Es kann doch nicht wirklich einen Amoklauf an meiner Schule gegeben haben. So etwas passiert nicht in echt. Und warum sollte ausgerechnet ich so etwas erleben? Was ist gestern nur passiert?“

 

Was folgt ist ein irrer Mix aus starken Emotionen. Tiefe Trauer wird abgelöst durch Wut auf die Mutter, die sich jahrelang nicht blicken ließ und ausgerechnet jetzt auftaucht, um helfen zu wollen. Was dahinter nun wieder steckt, lässt sich für den Leser leicht ahnen.

Überhaupt erkennt man an Miriam ganz deutlich dieses ganze Gefühlschaos, in dem schon ein „normaler“ und nicht durch Extremerfahrungen belasteter Jugendlicher regelmäßig steckt. Ich glaube, in dieser Phase des Lebens sind alle Empfindungen noch eine Spur extremer, als sie im späteren Leben sind. Miriam wirkt da sehr authentisch.

 

Man begleitet sie durch viele Erinnerungen, zu Psychologen-Terminen und zu den Gräbern ihrer Freunde. Und man erlebt ihre Entwicklung mit. Der Weg in eine neue Zukunft ist nicht einfach. Darf es eine neue Zukunft überhaupt geben? Miriam wird von Schuldgefühlen gequält, beispielsweise ihrem toten Freund gegenüber. Und da ist noch mehr, ein weiteres Gefühl von Schuld, das sie sich lange nicht eingestehen will. Und das berechtigt zu der Frage führt, ob man den ganzen Amoklauf nicht hätte verhindern können…

 

Ein Punkt, der in einem solchen Buch nicht fehlen darf, ist die Beschäftigung mit dem Täter. Die Frage, nach dem „Warum“ wird gestellt – wie so oft, kann sie nicht abschließend beantwortet werden. Aber es finden sich Anhaltspunkte, mögliche Gründe und Auslöser. Dabei kommt man erwartungsgemäß an den Themen Mobbing, Ausgrenzung und Anderssein nicht vorbei. Ich halte Bücher wie dieses für sehr wichtig, da Mobbing usw. leider zum Schulalltag gehören. Natürlich (und zum Glück!) wird nur aus wenigen gemobbten Menschen ein Amokläufer, aber es schadet ganz bestimmt nicht, sich mal mit den psychischen Belastungen aller Beteiligten auseinanderzusetzen.

 

Fazit: Ein tolles Buch zu einem wichtigen Thema. Sehr intensiv und emotional geschrieben. Ich vergebe eine volle Leseempfehlung für (wenigstens) alle Jugendlichen, Eltern und Lehrer.

 

„Es ist nicht wie in den Filmen, wo alle schon wissen, was geschehen wird, weil sie die Vorschau gesehen haben. Und es gibt auch keine Helden. Denn in der realen Welt denkt man nur an sich.“